Zu Besuch in St. Pierre, der alten Hauptstadt der Karibik

Maison de la Bourse, St. PierreMaison de la Bourse, St. Pierre

Wer heute nach St. Pierre kommt, erlebt eine kleine Stadt im Nordwesten der Insel Martinique. Das Meer lockt mit seinem phantastischen Blau, ebenso das karibische Gewusel auf den Straßen und an den Marktständen. Man ahnt nicht unbedingt, dass man sich auf historischem Grund befindet.

Doch es lohnt sich, ein wenig tiefer einzutauchen, denn St. Pierre zeugt von einer reichen und zugleich tragischen Geschichte und trägt heute ganz zu recht das Label einer ´Ville d´art et d´histoire´. Die ehemalige Inselhauptstadt wurde im Jahr 1902 durch den Ausbruch der Montagne Pelée komplett zerstört.

Eine Stadt in der Karibik

In St. Pierre ging einst Christopher Columbus an Land, der ja eigentlich den Seeweg nach Indien suchte. Er irrte gleich in doppelter Hinsicht, als er glaubte Rothäute zu erblicken. Dabei nutzten die Einwohner der Insel die wohltuende Wirkung der intensiv roten Früchte des Roucou-Strauchs, die sowohl gegen intensive Sonnenstrahlung als auch gegen Mücken schützen. Pflanzliche Heilmittel werden auch heute noch sehr gerne genutzt und es gibt auf Martinique Tees gegen jedes nur erdenkliche Wehwehchen.

Pierre Belain d´Esnambuc war der erste europäische Siedler auf Martinique. Er gründete St. Pierre im Jahr 1635, starb jedoch zwei Jahre nach seiner Ankunft; sein Neffe wurde zum Gouverneur der Insel ernannt.

Die Bucht von St. Pierre

Die Bucht von St. Pierre

Die geografische Lage von St. Pierre war günstig: die Stadt lag an den Seewegen, die Europa mit Amerika verbinden. Es gab zwar keine Außenreede oder Hafeninfrastruktur, es entstand aber dennoch der größte Handelshafen der Insel und das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts  wichtigste Handelszentrum Martiniques. St. Pierre war ein Sammelbecken für Kaufleute und Händler, Abenteurer und Handwerker. Reisende kamen und gingen.

Womit wurde Handel betrieben? Natürlich mit Zucker, denn Zuckerrohr gedeiht gut im feuchten Klima der Insel. Später, als Industriezucker Rohrzucker verdrängt, verlagern die Produzenten sich auf die Herstellung von Rum – heute gilt der Rum aus Martinique als beste der Welt, da er nur aus Zuckerrohrsaft, nicht aus Melasse, destilliert wird, mit AOC-Label für die geschützte Herkunft. Angekauft wurden Kohle, die man für die Maschinen benötigte, und Vieh. Auf der Place du Sénégal fand der Sklavenmarkt statt. Aus heutiger Sicht erscheint es kaum vorstellbar, dass Menschen nach ihrer körperlichen Stärke oder ihrem Gebiss bewertet werden, aber die Zeit der Sklaverei prägt die Gesellschaft bis heute, zumal sich die Ungerechtigkeit bis in die Gegenwart fortsetzt.

 

Das wirtschaftliche Leben konzentrierte sich vor allem auf den Hafenbereich. Warenlager und Geschäfte befanden sich an den angrenzenden Straßen. Auch das Bekleidungsgewerbe erlangte Bedeutung – es gab Modegeschäfte, Stoffverkäufer, Schneider und Hutmacher. Auch das Geschäft der Uhrmacher lief gut, denn die Zeitmessung hatte eine große Bedeutung für den Handel und die Schifffahrt.

Der Ausbruch der Montagne Pelée

Der Gipfel der Montagne Pelée verbirgt sich meist hinter Wolken, und man sagt, dass jeder, der die Bergspitze nur hinter Wolken verborgen erahnen kann, erneut nach Martinique kommt, um sie bei klarem Himmel zu sehen. Aus eigener Erfahrung würde ich hinzufügen: auch all jene, die die Spitze schon einmal sehen konnten, zieht es wieder auf die Insel…

Der Gipfel ist meist in Wolken verborgen: Montagne Pelée

Der Gipfel ist meist in Wolken verborgen: Montagne Pelée

Am Morgen des 8. Mai 1902 brach die Montagne Pelée aus und zerstörte St. Pierre vollständig. Es gab Vorboten, die man jedoch nicht zu deuten wusste. Martinique wurde wie andere Karibikinseln auch seit jeher mit Flutwellen, Hurrikanen und kleineren Erdbeben konfrontiert. Schon seit Tagen gab es in der Gegend Erdstöße, Flüsse schwollen an, Ascheregen und Starkregen gingen nieder, Quellen versiegten. Die Dörfer Le Prêcheur, Grand-Rivière, Macouba und Basse-Pointe wurden unter Schlammlawinen begraben.

Die Bevölkerung war unruhig und suchte Wege, um aus der Stadt zu fliehen. Man bildete am 7. Mai eine Kommission, um die Phänomene zu bewerten. Zum Verhängnis wurde der Stadt jedoch, dass gerade Wahlen stattfanden. Der Gouverneur verhinderte mit Polizeigewalt, dass die Bewohner St. Pierre während der zwei Wahlgänge verließen – er wollte die Abstimmung nicht gefährden. Welch unglaubliche Fehlentscheidung.

Am 8. Mai 1902 setzte eine gewaltige Explosion eine Wolke aus Gas frei, und die Druckwelle hinterließ eine Schneise der Zerstörung. Lava trat nicht aus, vielmehr ging ein Regen aus Steinen nieder und kochender Schlamm ergoß sich bis ins Meer, so dass auch jene Menschen, die sich durch einen Sprung von den Schiffen ins Wasser retten wollten, keine Chance hatten. Die Ruinen der Stadt brannten mehrere Tage lang.

Die Gedenkstätte der Katastrophe von 1902

Das ´Musée Frank A. Perret´ ist heute ein Museum der Stadt St. Pierre und trägt zugleich das Label ´Musée de France´. Doch wer ist eigentlich dieser Frank A. Perret?

Während einer Italienreise gelangte der amerikanische Ingenieur, Erfinder und Unternehmer Frank Perret in Berührung mit dem Thema Vulkanologie. Die Begegnung mit dem Leiter des Observatoriums des Vesuv, Matteucci, hinterließ bleibende Spuren. Perret reiste fortan durch die Welt, um seine Kenntnisse über Vulkane zu vervollständigen, und nach Stationen in Sizilien, auf Hawaii, auf den Kanarischen Inseln und in Japan landete er 1929 auf Martinique. Hier grummelte die Montagne Pelée erneut. Perret nutzt sein über die Jahre erworbenes Wissen, um ein Frühwarnsystem zu installieren und konnte die Bevölkerung rechtzeitig evakuieren.

1933 eröffnete Perret ein erstes vulkanologisches Museum in St. Pierre. Es handelt sich um einen rechteckigen Bau, der im Stil des Art Déco gehalten ist. Das Museum zeigt Spuren der Katastrophe und bietet viele Informationen zum Thema Vulkanologie.

Moderne Architektur an historischer Stelle

Moderne Architektur an historischer Stelle

Eine erste Renovierung findet 1969 statt und am 8. Mai 2019 eröffnet dann das rundum erneuerte Museum unter dem neuen Namen ´Mémorial de la Catastrophe de 1902 – Musée Frank A. Perret´. Der neue Name soll die neue kulturelle Ausrichtung des Museums deutlich machen: Wie haben die Menschen in St. Pierre vor der Katastrophe gelebt und welchen Widerhall hat der Vulkanausbruch in der Welt? Das Museum versteht sich als eine Gedenkstätte und zugleich als der Ort, an dem die kollektive Erinnerung ihren Raum findet.

Die Architektur ist zeitgenössisch und ästhetisch sehr ansprechend – ein Werk von Olivier Compère, mit klaren Linien und Formen. Die Lage des Mémorial gefällt mir ebenfalls ausgesprochen gut: sehr zentral und mit Blick auf´s Meer. Als Besucher hat man sowohl die Montagne Pelée als auch das Meer im Blick. Einer der Akteure ist übrigens die ´Fondation Clément´ – man erkennt die Handschrift sofort.

Wertschätzung für die Menschen - typisch Fondation Clément

Wertschätzung für die Menschen – typisch Fondation Clément

Dem Meer zugewandt: das ´Mémorial de la Catastrophe de 1902´

Dem Meer zugewandt: das ´Mémorial de la Catastrophe de 1902´

Die Sammlung des Museums zeigt heute 432 Artefakte – Objekte aus dem täglichen Leben oder solche aus einem religiösen Kontext. Und all diese Objekte tragen Spuren der Vergangenheit.

Man ahnt den Reichtum des alten St. Pierre

Man ahnt den Reichtum des alten St. Pierre

Besucher können einen Audioguide nutzen, der auch in deutscher Sprache verfügbar ist, oder aber einen ebenfalls in Deutsch verfügbaren gedruckten ´Besucherführer´. Ein ganz dickes Lob an die Übersetzer: das Dokument ist sprachlich hervorragend!

 

2002, anläßlich des 100. Jahrestages der Katastrophe, begann man, die Identität der Verstorbenen zu klären. Die Archive des Départements Martinique sowie die Verbände ´Histoire et Généalogie de la Caraibe´ (Verein für die Genealogie und Geschichte der Karibik) und ´Association martiniquaise de recherche sur l´histoire des familles´ (Martinikanischer Verein für Familienforschung) machten sich an die Arbeit. Auf den Wänden des Mémorials finden sich heute die Namen von 7.045 Opfern, die bislang namentlich benannt werden können – dies ist das Herzstück des Musée Frank A. Perret. Auch online können hier Recherchen betrieben werden.

Im Mémorial - die Kirchenglocke wurde von der Druckwelle verformt

Im Mémorial – die Kirchenglocke wurde von der Druckwelle verformt

Zeugnis der Zerstörungskraft

Zeugnis der Zerstörungskraft

An den Wänden entdecke ich auch den Namen Depaz und muss schlucken – das ist ein Hinweis auf das wunderbare Château Depaz. Victor Depaz war als Student in Bordeaux, während auf Martinique seine gesamte Familie ausgelöscht wurde. Eine unfassbar traurige Familiengeschichte und zugleich Berufung für Victor Depaz.

Auch der Mitglieder der Familie Depaz wird hier gedacht

Auch der Mitglieder der Familie Depaz wird hier gedacht

Im Volksglauben gibt es zwei Deutungen der Katastrophe. Der 8. Mai 1902 war der Himmelfahrtstag und für die Menschen jener Zeit schien der Fluch Gottes über die Gemeinde gekommen zu sein. Vielleicht hatte man es ja doch zu wild getrieben…. Es gibt jedoch auch eine nicht-religiöse Deutung, nach der sich im Vulkanausbruch ein Fluch der Kariben geäußert hat. Die Ureinwohner Martiniques hatten einst kollektiven Selbstmord begangen und sich von einem Felsen ins Meer gestürzt, um der Versklavung zu entgehen.

Der Blick vom Theater zur Montagne Pelée

Der Blick vom Theater zur Montagne Pelée

Überlebende und Flüchtlinge

Wenn man das kollektive Gedächtnis befragt, dann gab es einen einzigen Überlebenden der Katastophe, nämlich Cyparis, eigentlich Ludger Sylbaris. Er saß in einer Gefängniszelle und wartete vergeblich auf sein Frühstück, als draußen die Welt unterging. Erst Tage später wurde er mit schwersten Verbrennungen befreit. Bestätigt sind insgesamt drei Überlebende. 28.000 Todesopfer werden in und um St. Pierre vermutet.

Point of interest: eine Gefängniszelle

Point of interest: eine Gefängniszelle

Lebensretter Gefängniszelle

Lebensretter Gefängniszelle

Das Theater von St. Pierre, direkt neben der Zelle von Cyparis, ist noch heute ein stummer Zeuge der kulturellen Pracht, die sich einst in St. Pierre entfaltete.Das Theater wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Modell des Theaters von Bordeaux errichtet und verfügte über sagenhafte 800 Plätze. Dem Theatersaal war eine Freitreppe vorgelagert. Der Saal war nach italienischem Vorbild angelegt, mit Logen und Orchestergraben. Das Gebäude war unglaublich modern, und es gab hier sogar elektrischen Strom. Das reichlich in der Stadt vorhandene Wasser wurde zur Kühlung des Steins durch das Gebäude und die Straßen geleitet.

Prachtvoller Aufgang zum Theater

Prachtvoller Aufgang zum Theater

Direkt hinter dem Theater - das Meer

Direkt hinter dem Theater – das Meer

Das wirtschaftliche Leben verlagert sich in der Folge des Vulkanausbruchs nach Fort-de-France, das bisher nur Sitz der Administration war. Die ersten Bewohner kehrten in die Stadt zurück, die nun allerdings auch Katastrophentouristen anzog. Die Menschen waren neugierig, die Ruinen zu sehen. St. Pierre zählt heute wieder rund 4.500 Bewohner.

Neue Blüte

Heute erscheint St. Pierre wie ein kleines, beschauliches Städtchen am Meer. Ein Steg führt weit ins Meer hinaus und bietet einen tollen Blick auf das Städtchen und die Montagne Pelée.

Der Blick auf St. Pierre, vom Meer aus

Der Blick auf St. Pierre, vom Meer aus

In der Bucht vor St. Pierre liegen auch heute noch zahlreiche Schiffswracks – ein Paradies für Taucher.

Die Bucht von St. Pierre - ein Paradies für Wracktaucher

Die Bucht von St. Pierre – ein Paradies für Wracktaucher

Auf dem kleinen Markt bieten Händler ihre Produkte feil und es zeigt sich die ganze Farbenpracht der Karibik.

Luftig-locker: Der Markt von St. Pierre

Luftig-locker: Der Markt von St. Pierre

Einkauf mit Aussicht - auf dem Markt in St. Pierre

Einkauf mit Aussicht – auf dem Markt in St. Pierre

Einige Schritte weiter südlich, an der Place Bertin, kann man die ´Maison de la Bourse´ bewundern. Es handelt sich um einen Bau von Gérard Jacqua, der originalgetreu rekonstruiert wurde. Man wollte hier die Pracht kreolischer Architektur und zugleich den einstigen Reichtum von St. Pierre deutlich machen.

Maison de la Bourse - die ganze Pracht kreolischer Architektur

Maison de la Bourse – die ganze Pracht kreolischer Architektur

Ein Seitenblick

Ein Seitenblick

Auch hier die gleiche Handschrift: Wertschätzung für die Menschen

Auch hier die gleiche Handschrift: Wertschätzung für die Menschen

Was mir auf Martinique immer wieder positiv auffällt: man ist sich bewusst, dass die Insel ein Melting Pot der unterschiedlichsten Kulturen ist. Und jede einzelne Kultur hat ihre Besonderheiten und trägt ihren Teil zum gesellschaftlichen Leben bei. In St. Pierre wird das überaus deutlich: hier wird auf die Stelle hingewiesen, wo einst die ´Aurélie´, das erste Schiff aus Indien anlegte.

Der Segler Aurélie legte am 6. Mai 1853 mit 313 indischen Arbeitern an - heute Teil der kulturellen Identität Martiniques

Der Segler Aurélie legte am 6. Mai 1853 mit 313 indischen Arbeitern an – heute Teil der kulturellen Identität Martiniques

Neugierig geworden?

Falls ihr mehr wissen wollt über die Geschichte von St. Pierre und das ´Mémorial de la Catastrophe de 1902 Musée Frank A. Perret´, dann schaut euch auf der Website um! Sie ist in Französisch und in Englisch verfügbar und stellt eine wahre Fundgrube an Wissenswertem dar.

Karibische Freizeitbeschäftigung

Karibische Freizeitbeschäftigung

Offenlegung

Ich durfte St. Pierre gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Journalisten besuchen, die vom Comité Martiniquais du Tourisme empfangen wurde: Ich danke unserer Führerin im Museum und ganz besonders unserem Guide Thierry Neri, der mir im wahrsten Sinne des Wortes die Augen geöffnet hat für die Geschichte von St. Pierre. Die beschriebenen Eindrücke sind meine eigenen.

Überaus friedlicher Sonnenuntergang über St. Pierre

Überaus friedlicher Sonnenuntergang über St. Pierre

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2 Kommentare

  1. Ein sehr schöner Artikel über dieses schmucke Städtchen, welches ich auch schon sehen durfte.

    Eine Kleinigkeit ist mir im Artikel allerdings aufgefallen: Als Zyklon werden Wirbelstürme im Indischen Ozean bezeichnet. In der Karibik ist die Bezeichnung Hurrikan richtiger. 😉

    • Danke für dein Feedback! Es hat sich tatsächlich einiges getan, seit du in St. Pierre warst. Ich bin tatsächlich immer wieder überrascht, wie schnell Martinique sich erneuert. Und die Stürme werde ich korrigieren – danke für den Hinweis!

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