Manchmal denke ich, ich kenne mein eigenes Land viel zu wenig. Weiß gar nicht, welche Schätze es in Deutschland zu entdecken gibt. Es zog mich an die Ostsee und eigentlich wollte ich nur einige Tage Urlaub machen. Den Blick auf das tiefblaue Wasser genießen und das Geschrei der Möwen im Ohr haben – das ist meine Vorstellung von einigen perfekten Urlaubstagen. Zugleich wollte ich mir endlich einmal die nördlichste Stadt Deutschlands anschauen. Was ich gelernt habe: Flensburg ist die deutsche Hauptstadt des Rums und einer der zentralen Orte des Westindienhandels. Ich begebe mich auf Spurensuche.
Flensburgs dänische Geschichte
In Flensburg herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Beim Gang durch die Gassen und Straßen habe ich nicht nur skandinavische Sprachen im Ohr – viele Geschäfte oder Gebäude sind zweisprachig beschriftet, in Deutsch und in Dänisch. Es gibt eine dänische Bibliothek, dänische Bäckereien – es ist einfach hyggelig. Der Oluf-Samson-Gang ist fast absurd pittoresk – fast zu schön, um wahr zu sein.
Flensburg war tatsächlich lange dänisch und zählt erst ab 1864 zu Preußen. Die dänische Vergangenheit ist noch heute, in der deutschen Gegenwart, spürbar.
Um die Geschichte Flensburgs ganz kurz zusammenzufassen: Die Eiszeit schuf die 34 Kilometer lange Förde und Menschen machten sich auf den hügeligen Endmoränen sesshaft. Sie begannen zu handeln, vorrangig mit Hering und Salz, so dass sich um 1100 ein mittelalterlicher Handelsplatz entwickelte. Die Errichtung einer Zollstation schien sinnvoll. Die Siedlungen rund um die Kirchen St. Nikolai und St. Marien entwickelten sich und wuchsen langsam zusammen, aber noch heute gibt es zwei Märkte, den Süder- und den Nordermarkt.
Die Stadt erlebte im 18. und 19. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blütezeit. Grund dafür war der Handel mit den Kolonien in Dänisch-Westindien. Christopher Kolumbus suchte bekanntermaßen den Seeweg nach Indien, verfuhr sich aber. Bei seiner zweiten Reise lernte er Zuckerohr kennen. Dänemark war Kolonialmacht und die Kopenhagener betrieben ab 1666 Handel mit Westindien. Ab 1755 durften die Flensburger auch zu den dänisch-westindischen Inseln St. Thomas, St. John und St. Croix segeln. Sie brachten Baumwolle, Tabak und Hölzer mit, und eben auch Zucker und Rum. Flensburg entwickelte sich neben Kopenhagen und Altona zu einem der bedeutendsten Standorte der Zuckerproduktion im dänischen Königreich. Und Flensburg gilt nach wie vor als Rum-Hauptstadt.
Im Schifffahrtsmuseum
Flensburger Schiffe befuhren die Weltmeere zwischen Riga und Königsberg im Osten, Bergen und Drontheim im Norden sowie Bordeaux im Süden. Später ging es dann auch über den Atlantik, in die Karibik. Ende des 16. Jahrhunderts galt Flensburg als die wichtigste Handelsstadt des skandinavischen Raums. Auf 6.000 Einwohner kamen mehr als 200 Schiffe.
Zentrum des Handelshafens war die Schiffbrücke, denn hier konnten die Handelsschiffe anlegen und die Waren umschlagen. Und genau hier, im großen Zollpackhaus von 1843 befindest sich heute das Flensburger Schifffahrtsmuseum. Eine wunderbare Entdeckung!
Das Museum besteht aus mehreren Gebäudeteilen, die durch einen großzügigen Innenhof, der zum Verweilen einlädt, zusammengehalten werden. Hier kann man alles über den Hafen und die pittoresken Höfe erfahren, lernt über die Kulturgeschichte Flensburgs sowie die Küsten- und Fördeschifffahrt.
Im historischen Fasskeller des ehemaligen Zollpackhauses, genau da, wo bis in die 1970er Jahre noch Rum aus Westindien unter Zollverschluss lag, befindet sich heute das Rum-Museum. Auf den ersten Blick wirkt der Raum sehr klein, aber er bietet vielfältige Entdeckungen.
Die Herstellung des Flensburger Rums war ursprünglich Handarbeit und erst in den 1950er Jahren begann die Automatisierung der Produktion. Nach dem Niedergang der Rumindustrie kamen die Gerätschaften der Firmen Balle, Pott, Hansen, Dethleffsen und Sonnberg in das 1993 eröffnete Rum-Museum. Man kann Kupferkannen, Mischgefäße, Abfüllanlagen und Etiketiermaschinen sehen – alles in gedämpftem Licht, aber wunderschön inszeniert.
Vor allem aber wird die Geschichte der Rum-Stadt Flensburg durch eine multimediale Darstellung lebendig. Erzählt wird die Geschichte des Kaufmanns Andreas Christiansen – auf mehreren Bildschirmen und mit verschiedenen Stimmen. Er will selbst nicht zur See fahren, da er mehrere Mitglieder seiner Familie bei Schiffsunglücken verlor. Er kommt 1755 nach Flensburg, gründet eine Handelsgesellschaft und verstirbt 1813 als reichster Mann der Stadt. Kapitän Schmidt tritt die Reise über den Atlantik an – gen Norden, nach Madeira, und von dort in die Karibik, über Antigua nach St. Thomas.
Im Museum werden auch die Schattenseiten des Reichtums nicht ausgeblendet und das fatale Dreieck der Handelsbeziehungen deutlich gemacht: der Hafen auf St. Thomas war zeitweise der wichtigste Umschlagplatz für Waren in der Karibik. Von hier aus gingen Zucker, Baumwolle, Tabak, Indigo, Kaffee und Rum nach Dänemark. Von Dänemark aus gingen Glasperlen, Gewehre und Rum nach Afrika. An der Küste waren eigens für den Menschenhandel gedachte Forts errichtet worden. Hier wurden Glasperlen für Menschenleben geboten: rund 12,5 Millionen Menschen wurden zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert aus Afrika nach Nord-, Mittel- und Südamerika verschleppt. Rund 111.000 davon landeten auf den dänisch-westindischen Inseln. Die Fahrt über den Atlantik dauerte rund zwei Monate. Wer die Tour überlebte, wurde an Plantagenbesitzer verkauft. Ich fühle mich sehr an meine Besuche in der Savane des Esclaves erinnert, dem Freilichtmuseum zur Geschichte der Sklaverei auf Martinique. Und hier in Flensburg bin ich auf der Seite derer, die von der Geschichte profitieren konnten…
Die Sklavenaufstände setzen dem lukrativen Handel ein Ende. Flensburg entwickelt sich weiter als Marktplatz für Kolonialwaren. Durch die Lösung von Dänemark können die dortigen Häfen von Flensburger Schiffen nicht mehr angefahren werden. In Jamaica fand man schnell Ersatz für das dänische Zuckerrohr. Und in den Höfen am Holm wurden Rumrezepte entwickelt, nicht ohne Erfolg: 70 % des Rumhandels in Deutschland finden in Flensburg statt.
Im Schifffahrtsmuseum gibt es auch das Rum-Kontor, in dem man ganz besondere Tropfen verkosten und erstehen kann. Hier habe ich auch den einzigen Rum entdeckt, der einen Bezug zu Martinique hat – nämlich Tres Hombres, destilliert von La Favorite. Das zum Rum-Kontor gehörige Ladengeschäft befindet sich in der Norderstraße, direkt hinter dem Museum.
An der Schiffbrücke
An der Schiffbrücke befindet sich heute der historische Hafen Flensburgs. Der Spaziergang führt an einigen historischen Frachtseglern vorbei. Ich bilde mir ein, dass hier immer noch etwas vom geschäftigen Geist der Zeit des Überseehandels zu spüren ist. Auch in der Museumswerft wird die Erinnerung an die maritime Geschichte der Stadt wachgehalten. Die Atmosphäre ist jedoch nicht museal, sondern durchaus rustikal. Mir gefällt´s!
Stadtrundgang auf der Rum- und Zucker-Meile
Wenn man den Stadtplan von Flensburg stark vereinfachen will, kann man sagen, dass eine Straße, die verschiedene Namen trägt, parallel zur Förde verläuft: Norderstraße, Große Straße und Holm. Hier wird deutlich, wie sehr das Wirtschaftsleben einst die Stadt prägte.
Ein Hof am Holm hatte ganz besondere Kennzeichen. Wichtig für den Kaufmann war der kurze Weg zum Hafen. Kam eins seiner Schiffe an, dann wollte er schnell vor Ort sein. Und die Waren verteilte er immer auf mehrere Schiffe. Wurde eins von Piraten überfallen oder ging in einem Sturm unter, dann war zumindest nicht die ganze Ladung verloren.
Die Häuser selbst waren schmal, schließlich wurde die Grundsteuer nach der Fläche berechnet. Es gab eine zum Holm gerichtete Seite mit Empfangszimmer, daneben einen großen Garten und Platz für Vieh und vor allem Platz für die Waren. Durch die Speicher war alles sehr eng. Kam ein Schiff an, dann blieben nicht mehr als acht bis zehn Tage Zeit, die Ware vom Schiff zu holen und neue Ware zu verladen.
Damit kein Missverständnis aufkommt: in Flensburg wurde nie Rum gebrannt. Zuckerrohr muss sofort verarbeitet werden, und zwar schon in den Herkunftsländern – entweder durch Pressen und Kochen zu Roh-Rohrzucker, der dann in Flensburg zu Kandis oder Zucker weiterverarbeitet wird, oder durch Destillation zu Rum. In Flensburg wurde der Rum in Fässern gelagert oder zu Rum-Verschnitt weiterverarbeitet. Der Rum, der heute in Flensburg veredelt wird, stammt vorwiegend aus Jamaica. Die Handwerker, deren Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Handel standen, waren auf der anderen Straßenseite angesiedelt, Richtung Hügel.
Der Hof Borgerforeningen ist auch historisch bedeutsam, denn hier war regelmäßig der dänische König zu Gast. In einem Friseurladen verbirgt sich eine ganz besondere Kuriosität, nämlich die üppige Innendekoration des unter Denkmalschutz stehende Haus der Familie Peter Petersen-Schmidt.
Ein paar Schritte weiter und abseits der Touristenpfade ragt der Westindienspeicher des Handelshauses Christiansen in die Höhe. Der Kaufmannshof Große Straße 24 ist typisch für den Westindienhandel. Firmengründer Andreas Christiansen besaß zwei Handelshöfe. Er war Eigner mehrerer Segelschiffe, einer Zuckerraffinerie und einer Ölmühle. Der 1789 errichtete, sogenannte Westindienspeicher ist ein großes, fünfstöckiges Gebäude zur Lagerung von Kolonialwaren. Letzter Nutzer des Gebäudes war die Rum-Firma J.C. Schmidt – heute finden sich hier – nach einer umfassenden Sanierung – Wohnungen und Büros.
In Johannsens Hökerei
Heute sind nur wenige Rum-Häuser übriggeblieben, und eins davon ist Johannsen. Andreas Heinrich Johannssen eröffnete sein Rumhaus Johannnsen am 1. Mai 1878 in der Großen Straße 4. Dort blieb die Firma aber nur 36 Jahre. Heute ist sie in der Marienstraße 6 zu finden, in der über 300 Jahre alten Marienburg.
Hier kann man im Rahmen von Führungen einen Blick in die Produktion werfen und lernt nebenbei alles über die hohe Kunst des Blending, d.h. das Mischen verschiedener Rumsorten zum sog. German Flavoured Rum.
In der winzig kleinen Hökerei kann man den Rum dann auch verkosten. Ich muss euch allerdings vorwarnen: wer die überaus großzügigen Rumverkostungen in den Destillerien auf Martinique gewohnt ist, reibt sich hier verwundert die Augen: man bekommt tatsächlich nur einen winzigen Schluck ins Verkostungsglas und muss bei diesem einen Schluck die Seele und das Wesen des Rums verstehen. Oder auch nicht. Ein zweiter Rum wird gar nicht erst angeboten. Hier bestimmt die Kaufmannsseele den Takt. Wer mehr als diesen winzigen Schluck möchte, muss 50 Cent löhnen. Ich denke, die Martiniquais haben das Thema Marketing besser verstanden.
Übersee-Rum
Eine besondere Kuriosität gibt es bei Marzipan im Hof zu entdecken: Übersee-Rum, der 21.000 Seemeilen zurücklegte. Es handelt sich um einen Rhum Agricole, der 2015 von Biele auf der zu Guadeloupe gehörenden Insel Marie Galante destilliert wurde und dann fünfeinhalb Jahre in einem Bourbon-Fass lagerte. Der Flensburger Kaufmann Holger P. Hoyer Matthiesen kaufte ein 59-Liter-Fässchen, füllte den Inhalt in ein Madeira-Fass um und schickte dieses dann auf dem Frachtensegler Avontuur klimaneutral über den Atlantik. Man munkelt, die salzhaltige Luft und die Wellen ließen den Rum außergewöhnlich komplex reifen.
Braasch Rum & Museum
In der überaus malerischen Roten Straße in der südlichen Altstadt von Flensburg lockt als besonderes Highlight die Rum Manufaktur Braasch – mit Museum! Vorne ist der Laden und im zweiten Hinterhof wartet dann die private Sammlung von Destillateur Walter Braasch auf freudige Entdeckung.
Walter Braasch war einer der Letzten, der in Flensburg das Handwerk des Destillateurs erlernte. Zur Zeit seiner Lehre, in den 1970er Jahren, gab es noch 25 Spirituosenfabriken und Rumhäuser. Der Markt befand sich im Umbruch und Braasch machte sich zunächst mit einem Wein- und Spirituosenhandel selbständig, bevor er sich dann an ein Rezept aus Lehrlingstagen erinnerte – den Chef-Rum. Einst war dies ein Rum, der nur für die besonderen Anlässe und den Eigenbedarf gedacht war. Mittlerweile bestimmt die zweite Generation die Geschicke des Geschäfts.
Mein persönliches Fazit?
Es ist unglaublich spannend, Flensburg als die deutsche Rum-Hauptstadt zu entdecken, die Bedeutung des Handels mit Dänisch-Westindien für die Entwicklung der Stadt zu verstehen. Allerdings: wir stehen als Deutsche bzw. Europäer auf der Seite der Gewinner der Geschichte. Wir im Westen haben profitiert vom Dreieckshandel mit der Sklaverei. Und ich bin unglaublich froh, dass ich auch die andere Seite gesehen habe – auf Martinique, wo heute viel getan wird, um den Touristen die Zeit der Sklaverei nahe zu bringen. Und ihre Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft. Ich muss bei meinem nächsten Besuch auf der Insel einmal Guy Ferdinand fragen, ob er schon von der deutschen Rum-Hauptstadt Flensburg gehört hat.
Neugierig geworden?
Wenn ihr mehr über die Zucker- und Rumroute durch Flensburg erfahren wollt, dann schaut euch die sehr gut gemachte Website des Schifffahrtsmuseums an. Hier könnt ihr auch eine Karte der historisch bedeutsamen Orte herunterladen – für den individuellen Stadtbummel.
Die Touristinformation Flensburg bietet einige thematische Gästeführungen an, darunter auch eine Tour auf der Zucker- und Rumroute. Informationen zu Terminen und Preisen finden sich auf der Website www.flensburger-foerde.de. Die Stationen der Route sind in der Stadt deutlich gekennzeichnet und mittels QR-Code kann man weitere Informationen abrufen.
Dänemark und Rum?! Da hast Du aber eine schöne Geschichte aufgespürt. Ich bin nicht nur echt überrascht, sondern total neugierig auf Flensburg geworden. So nett wie das bei Dir aussieht, würde mir das auch gefallen. Auf in den Norden!!