Frankfurt ist die Stadt der Banken und der Börse. Die Banker prägen die Atmosphäre in der Stadt und die Wolkenkratzer bestimmen das Profil der Skyline. Die Deutsche Bundesbank hat hier ebenso ihren Sitz wie die Europäische Zentralbank, und dann gibt es noch die KfW-Bank, die mit der Villa 102 ein wahres Kleinod mit enormer Bedeutung für die Stadtgeschichte wieder hergerichtet hat. Die Museen in der Stadt bilden einen ruhigen Gegenpol zur Hektik des Geldkreislaufs und locken immer wieder mit aufregender Architektur und spannenden Ausstellungen.
Es gibt noch eine andere, enorm bedeutsame Institution, und man kann sagen, dass das kulturelle Gedächtnis Deutschlands in Frankfurt beheimatet ist – zumindest eine Hälfte davon. Ich habe mir die Deutsche Nationalbibliothek an der Adickesallee angeschaut.
Worum geht es?
Sie ist anders als eine Stadtbibliothek oder Stadtteilbücherei, in der Bücher zum Ausleihen angeboten werden. Es klingt vielleicht ein klein wenig pathetisch, aber die Deutsche Nationalbibliothek ist schlicht das Gedächtnis der Nation, denn sie sammelt, dokumentiert und archiviert alle Medienwerke, die in Deutschland erscheinen. Sie hat einen Sonderstatus als die zentrale Archivbibliothek Deutschlands und die Aufgabe, die gesammelten Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Was genau wird gesammelt? Kurz gesagt: alle im deutschsprachigen Raum veröffentlichte Literatur und Musik, und zwar ohne jede Wertung. Ganz egal, ob große Literatur oder trivialer Schund, der das bedruckte Papier nicht wert ist – alles wandert in die Sammlung. Gesammelt werden alle in Deutschland veröffentlichte Medienwerke, im Ausland veröffentlichte, deutschsprachige Medienwerke, im Ausland veröffentlichte Übersetzungen deutscher Medienwerke, Germanica, also Bücher über Deutschland, sowie zwischen 1933 und 1945 verfasste oder veröffentlichte Werke deutscher Emigranten. Die Sammelleidenschaft bezieht sich auf Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, aber auch Tonträger und Hörbücher sowie seit 2006 auch Websites, digitale Hörbücher, E-Books. Entscheidend ist, dass die Werke eine Auflage von mindestens 25 Exemplaren und einen Umfang von mindestens 5 Seiten haben.
Die Sammlung der in Deutschland erscheinenden Werke erhebt durchaus Anspruch auf Vollständigkeit. Jeder Verlag ist verpflichtet, der Nationalbibliothek zwei Exemplare jeden Werkes unaufgefordert und kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Für die im Ausland erschienen Werke ist dies nicht verpflichtend.
Ein Blick in die Geschichte
Bereits im 19. Jahrhundert gab es erste Versuche, ein kulturelles Gedächtnis der Nation zu schaffen, doch sie scheiterten, weil die Kulturpolitik föderal und nicht national organisiert war. Um 1910 gab es einen zweiten Anlauf: Leipzig und das Königreich Sachsen taten sich mit dem Börsenverein der deutschen Buchhändler zusammen und gründeten 1912 die Deutsche Bücherei in Leipzig. Ihre Aufgabe war es, alle ab dem 1. Januar 1913 erschienene Literatur zu sammeln.
Der Zweite Weltkrieg und die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen brachte es mit sich, dass es im Westen keine Bibliothek mehr gab. Die Amerikaner wurden aktiv und förderten 1947 die Gründung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, das in der amerikanischen Besatzungszone lag. Die erste Adresse dieser Einrichtung war die ehemalige Rothschildbibliothek am Untermainkai – dort, so heute das Jüdische Museum zu finden ist. Als Sammelbeginn wurde der 8. Mai 1945 festgelegt – ein Neustart in jeder Beziehung. Fortan gab es zwei Nationalbibliotheken, eine für die spätere DDR, die andere für die BRD.
1969 wird die Deutsche Bibliothek in Frankfurt per Gesetz eine bundesunmittelbare Anstalt des Öffentlichen Rechts. Die Abgabe von Pflichtexemplaren wird gesetzlich geregelt. Ein Jahr später wird das bislang in West-Berlin beheimatete Musikarchiv der Bibliothek in Frankfurt zugeordnet.
1990 wird Deutschland wiedervereinigt und beide Standorte bekommen eine Bestandsgarantie. 2006 wird dann das ´Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek´ erlassen, das den Sammelauftrag auf Webpräsenzen von eindeutigem öffentlichen Interesse erweitert. Was nicht gesammelt wird: Social Media, Blogs und Nachrichten. Fortan tragen beide Institutionen auch ihren heutigen Namen – Deutsche Nationalbibliothek. Die oberste Hausherrin ist Claudia Roth, die Staatsministerin für Kultur und Medien. Sie steuert aus dem Bundeshaushalt jährlich 50 Millionen Euro für den Betrieb bei.
Die Architektur
Im Jahr 1997 wird der Neubau der Deutschen Nationalbibliothek an der Adickesallee in Frankfurt eingeweiht. Das Architekturbüro Arat Kaiser Kaiser hatte bereits 1984 den Architekturwettbewerb gewonnen, aber die Wiedervereinigung verzögerte alle Arbeiten, so dass erst von 1992 bis 1996 tatsächlich gebaut werden konnte. Am Gebäude fährt man vielleicht achtlos vorbei, was aber auch daran liegt, dass man die Dimensionen schlicht nicht erkennt. Das Gebäude ist die Spitze des Eisbergs, denn oberirdisch wurden 9.300 Quadratmeter Fläche bebaut. Sichtbar sind vier verschiedene Gebäudeteile, in denen die Lesesäle, die Arbeitsbereiche der Mitarbeiter, das Deutsche Exilarchiv sowie ein Kongresszentrum untergebracht sind. Nicht sichtbar ist die Unterwelt: drei Etagen mit Magazinflächen, die eine Fläche von 30.800 Quadratmetern beanspruchen. Was für ein Bodenschatz! Und da die Magazingeschosse 12 Meter unter dem Grundwasserspiegel liegen, werden sie durch zwei Betonwannen geschützt und mit 70.000 Tonnen Eisenerz gegen den Auftrieb geschützt.
Die Lesesäle
Wir schauen uns die Lesesäle an, die sich über drei Ebenen erstrecken. Im ebenerdig gelegenen Hauptlesesaal findet sich die Anmeldung, an der die Benutzerausweise ausgegeben werden. Jeder, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann sich mit seinem Personalausweis anmelden. Früher war ein Jahresbeitrag für die Nutzung der Bibliothek fällig, aber aktuell läuft ein Pilotversuch, der die Nutzung komplett kostenfrei macht – ganz im Sinne des Auftrags, die Nutzung der gesammelten Medien der Öffentlichkeit barrierefrei zugänglich zu machen. Anders als in normalen Stadtbibliotheken, kann man keine Bücher mit nach Hause nehmen. Maximal zehn Werke werden für den Nutzer aus dem Magazin herausgesucht und können dann während 14 Tagen vor Ort konsultiert werden. Mehr als 300 Sitzplätze sind über die Fläche des Lesesaal verteilt und es gibt viele Ecken, in denen man es sich gemütlich machen kann. Eine große Fensterfront zum Garten hin lässt viel Licht hinein.
Im Zeitschriftenlesesaal stehen die zwei letzten Jahrgänge von rund 900 Zeitschriften aus allen möglichen Wissensgebieten zur Verfügung, man kann aber auch einfach Tageszeitungen lesen. Im Medienlesesaal im Untergeschoss stehen Bildschirme ohne jede Verbindung nach außen. Hier wird Literatur des Deutschen Exilarchivs zur Verfügung gestellt und man bekommt Zugriff auf elektronische bzw. Online-Publikationen.
Wie wird das Angebot der Deutschen Nationalbibliothek genutzt? Unser Guide erzählt uns, dass die Zahl der täglichen Nutzer auf 500 gesunken ist. Diese Zahl gilt für beide Standorte zusammen. Im Durchschnitt werden drei Medien konsultiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass etliche Menschen allein wegen der ruhigen Lesesaalatmosphäre in die Adickesallee kommen. Professoren, die in aller Ruhe Bücher schreiben wollen…Täglich kommen 10.000 Medienwerke neu hinzu, müssen erfasst und katalogisiert werden.
In den Katakomben
Wir steigen hinab in die Katakomben der Bibliothek. Das heißt: nur bis zur obersten Magazinetage. Hier hängen Förderbänder unter der Decke und es gibt vier Aufzüge für die Beförderung der Bestellungen. Mit Plastikwannen werden die Bücher an ihren Bestimmungsort befördert. Eine Bestellung – eine Wanne, und die Bestellung wird direkt bis ans Ziel befördert. An Lichtschranken wird die Signalkodierung an den Wannen gelesen. Weichen sorgen dafür, dass die Wannen den kürzesten Weg nehmen.
Was mich erstaunt: 30.800 Quadratmeter Fläche verteilen sich auf drei fußballfeldgroße unterirdische Geschosse, aber es gibt nur 10 bis 15 Mitarbeiter pro Magazinebene. Ich wüsste zu gerne, was das für Menschen sind, die hier, weit unter der Erde, arbeiten. Vermutlich Leute, die ihre Ruhe schätzen… 185 Kilometer Regalböden sind mit Druckwerk – mehr als 13 Millionen Medien – gefüllt. Und jedes Jahr kommen drei Regalkilometer neu hinzu. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Magazine voll sind. Darauf ist man gerüstet: Ein Erweiterungsbau wird da entstehen, wo heute noch auf der anderen Straßenseite eine Tankstelle steht. Um das Jahr 2050 wird es so weit sein.
Ordnung muss sein in diesen enorm großen Magazinen. Auf das D folgt das Jahr und die Ordnungsnummer der Erfassung. Kein Schnickschnack. Im Jahr 1993 ist man dazu übergegangen, die Werke nicht nacheinander ins Regal zu stellen, sondern nach Format zu sortieren. Wird ein Buch ausgeliehen, dann kommt ein sog. Stellvertreter mit Informationen über den Ausleiher ins Regal. Übrigens, die Drehkreuze können mit einem kleinen Finger bewegt werden und mit ihnen die gesamten Regale. Die Bücher genießen hier unten optimale Lagerungsbedingungen: kein Licht, eine Temperatur von konstant 18°C und 50 % Luftfeuchtigkeit. Angestrebt wird eine Lagerung für die Ewigkeit. Sollten Bücher feucht werden, so dass sich Schimmel bildet, oder säurehaltiges Papier sich auflösen, dann besteht in Leipzig die Möglichkeit zur Reparatur.
Das Exilarchiv & seine Ausstellungen
Ein bedeutender Bereich der Nationalbibliothek ist das Deutsche Exilarchiv zur Literatur 1933 bis 1945. Immer wieder werden spannende Ausstellungen angeboten, so wie aktuell die zum Leben und Wirken von Marcel Reich-Ranicki. „Ein Leben, viele Rollen“ ist noch bis zum 14. Januar 2023 zu sehen.
Neugierig geworden?
Wenn ihr mehr über die Deutsche Nationalbibliothek wissen wollt, dann schaut doch einmal auf der Website vorbei! Die Seite ist unglaublich reichhaltig – man sieht, hier nimmt jemand seinen pädagogischen Auftrag ernst – und informiert über beide Standorte, Frankfurt wie Leipzig. Ein Newsletter informiert über die regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen. In Zusammenarbeit mit der Kulturothek werden auch Führungen angeboten. Es lohnt sich!