Die Natur ist doch der größte Künstler! Wer sich für weite Naturräume und Aktivitäten an der frischen Luft begeistert, der ist in der Somme-Bucht genau richtig. Das Spiel von Sonne und Wolken sowie der ewige Kreislauf von Ebbe und Flut lassen die Landschaft immer wieder in ganz neuem und frischen Licht erscheinen. Eine Landschaft, die mich richtig durchatmen lässt.
Einige Kilometer von der Somme-Bucht entfernt gibt es ganz Erstaunliches zu entdecken. Wir waren in Argoules, auf halbem Weg ins Tal der Authie, und haben uns die Abtei und die Gärten von Valloires angesehen.
Das Zisterzienserkloster
Für alte Zisterzienserklöster habe ich schon immer ein Faible gehabt. Als Kind war ich oft in der Abtei Marienstatt, im Westerwald, und habe die schlichte Schönheit der Abteikirche bewundert. Im Burgund begeisterte mich vor einigen Jahren die Rekonstruktion der Abtei von Cluny. Diese Benediktinerabtei hatte einst durch Schenkungen und Spenden einen so großen Reichtum angehäuft, dass das Ideal der Einfachheit des Klosterlebens sträflich vernachlässigt wurde. Dies war ein Grund, warum rund 100 km von Cluny entfernt Cîteaux gegründet wurde – die Mutterabtei aller Zisterzienserklöster.
Die Abbaye de Valloires ist die 11. Tochter des Mutterklosters in Cîteaux. Sie wurde im Jahr 1156 mit Unterstützung des Comte de Ponthieu gegründet. Die Mönche kamen schnell zu einigem Wohlstand und im 13. Jahrhundert lebten und arbeiteten rund 100 Mönche in der Abtei.
Aber dennoch: die Gebäude wurden durch Brände und Kriegswirren zerstört, so dass im 17. und 18. Jahrhundert die Abtei komplett neu erbaut wurde. Die Innenausstattung wurde dem österreichischen Bildhauer Simon Pfaffenhofen und dem Kunstschmied Jean-Baptiste Veyren übertragen. Die Abtei ist heute die einzige vollständig erhaltene Zisterzienserabtei Frankreichs.
Im Kreuzgang
Wir schauen uns den Kreuzgang der Abtei an. Ein malerischer Ort des Friedens. Unser Guide lässt uns die Säulen pro Seite zählen, verrät aber noch nicht, welche Bedeutung die Zahl 9 hat…
Die Revolution verändert alles in Frankreich. Die neun übrig gebliebenen Mönche verließen die Abtei, die aber dennoch in gutem Zustand erhalten blieb, da sie immer bewohnt war.
1906 wurde die Abtei unter Denkmalschutz gestellt. Während des Ersten Weltkrieges diente sie als Hospital und 1922 schließlich richtete Thérèse Papillon ein Preventorium ein, ein Heim für tuberkulosekranke Kinder. Noch heute leben hier rund 100 Kinder, die Betreuung durch die Jugendhilfe brauchen.
Ein bemerkenswerter Birnbaum
Wir verlassen das ehrwürdige Gebäude, denn das eigentliche Ziel unseres Besuchs ist der Klostergarten. Am Seitenflügel fällt uns ein alter, knorriger Birnbaum auf. Er ist ein wahrer Methusalem unter den Birnbäumen: er wurde am 5. September 1756, dem Tag der Weihe der Abteikirche, gepflanzt. Die Birne – hier die Sorte Madeleine d´Angers – gilt seit dem Mittelalter das Symbol der Abtei. Die Mönche pflanzten zahlreiche Birnbäume und verarbeiteten die Früchte zu einem Likör, der im 15. und 16. Jahrhundert sehr geschätzt wurde. Seit 2021 trägt der alte Birnbaum das Label des Arbre remarquable de France – ein wirklich ganz bemerkenswerter Baum.
Der Klostergarten
Unsere Begleiter an diesem Nachmittag nehmen uns in Empfang: Gartenführer Jean-Claude Darras und Olivier Gignon, Küchenchef des zur Abtei gehörigen Table du Jardinier. Jean-Claude erzählt uns, dass er selbst gar kein Gärtner ist, sondern über Jahre ein begeisterter Besucher des Gartens. Bis er dann die Seiten wechselte und nun selbst Besucher führt. Ich ahne, dass uns eine genussvolle Gartenbesichtigung bevorsteht!
Die Gärten von Valloires wurden als zeitgenössischer Landschaftsgarten 1989 eröffnet und sind das erste große Werk des Landschaftsarchitekten Gilles Clément. Clément lief sich hier warm und schuf später unter anderem die Gärten des Musée du Quai Branly und den Parc André Citroen in Paris.
Die Anfänge des Gartens gehen auf das Jahr 1981 zurück, als der Gärtner Jean-Louis Cousin nach einem Standort für seine Sammlung an Pflanzen und Bäumen vor allem aus Asien und Nordamerika suchte. Gilles Clément gelingt es, fünf ganz unterschiedliche Gartenstimmungen zu schaffen. Rund 5.000 Arten sind auf dem acht Hektar großen Gelände zu bewundern, wobei die Geschichte des Klosters als Inspiration für die Anlage der Gärten dient.
Der Französische Garten
Wir beginnen unseren Spaziergang im Garten in französischem Stil, direkt gegenüber der westlichen Fassade des Klosters. Wir sehen gleich: hier ist alles geordnet, die Natur gebändigt und unserem Auge bieten sich klare Perspektiven.
Die einzelnen Felder sind wie in einem klassischen Klostergarten angelegt. Die Eibe auf den Feldern steht symbolisch für den Mönch, der sich einst um die Parzelle kümmerte. In den Sommermonaten kann man hier die Rosenpracht bewundern. Es gibt einige Sorten, die mit der Geschichte des Klostergartens verbunden sind, etwa die Jardins de Valloires, die Rose des Cisterciens oder die Rose de Picardie.
Übergangszone
Wir verlassen den Französischen Garten und laufen einige Stufen hinauf in eine Übergangszone. Jean-Claude erklärt uns, dass hier im Frühjahr vor allem japanische Kirschen blühen – in weiß, weil auch die Mönche der Abtei weiß gekleidet waren.
Der weiße Garten hat einige gelbe Tupfen, so die Begonie. Olivier knipst einige Blüten ab und legt sie in seinen Korb. Die Blüten kann man essen?
Wir haben keinerlei Mühe, uns die Allee in weißer Blütenpracht vorzustellen, aber der Garten entfaltet tatsächlich zu jeder Jahreszeit seine Schönheit. Das Wiederkommen lohnt!
Der Garten der fünf Sinne
Weiter geht die Entdeckungsreise in den Jardin des 5 sens. Dieser Garten spricht alle Sinne an, und wir riechen, schmecken, hören. Olivier hat Stevia entdeckt, das als Zuckerersatz dient, und er lässt uns die Blätter der Colapflanze und von Ananassalbei reiben und kosten.
Der Englische Garten
Wir laufen weiter zum Englischen Garten, dem Jardin des îles. Der Garten sieht hier fast aus wie unberührte Natur, aber natürlich liegt allem ein Plan zugrunde und wirklich nichts wurde dem Zufall überlassen. Die Pflanzen sind in 20 Inseln organisiert, und auf jeder Insel sind Pflanzen, die einander in irgendeiner Beziehung ähnlich sind, zusammengefasst. So gibt es Inseln mit gleicher Farbe oder ähnlichem Ambiente, eine Insel der Rinden oder der Herbstfrüchte.
In diesem Garten wird es garantiert nicht langweilig, denn hinter jeder Wegbiegung eröffnet sich eine ganz neue Landschaft. Der Garten lässt auch keine Begrenzung erkennen, sondern bezieht die Umgebung ein. Vier festangestellte Gärtner kümmern sich um den Erhalt der Gartenpracht. Dazu kommen während der Saison 10 bis 12 Hilfskräfte.
Olivier steuert schnurstracks auf Sedum zu. Diese Sorte hier ist essbar, also wandert sie ins Körbchen.
Wo der Pfeffer wächst…
Unsere nächste Station ist der Falsche Sichuan-Pfeffer. Jean-Claude lässt uns in die kleinen Beeren beißen, die zugleich eine prickelnde und betäubende Wirkung haben. 30 Jahre alt ist der beeindruckende Baum; kleinere Exemplare können käuflich erworben werden.
Wir sind zurück im Französischen Garten. Hier, ganz weit weg vom Klostergebäude, finden wir die Struktur des Kreuzgangs wieder. Jetzt wird uns klar, warum wir im Kreuzgang die Säulen zählen sollten – das cloitre végétal zeigt das gleiche Muster.
Hier wachsen Hagebutten, die genau wie ein Tomatencoulis verarbeitet werden können.
Jardin du Marais
Unser Weg führt noch eine Etage tiefer, auf Wasserhöhe, in die Jardins du Marais. Wasser ist hier überall und der Fluss Authie nahe; der Garten macht einen wilden Eindruck.
Wir fragen Jean-Claude, was seine liebste Jahreszeit im Garten ist. Seine Antwort überrascht vielleicht, denn ihm ist der Herbst am liebsten. Die Zeit, wenn die Blätter sich verfärben. Jean-Claude mag lieber Blätter als Blüten. Blütenliebhaber können sich am Kalender auf der Website des Gartens orientieren, um die beste Jahreszeit für den Besuch zu finden.
Blätter und Blüten essen?
Jetzt wird es ernst! Oliviers Körbchen hat sich gut gefüllt und nun kommt unser Einsatz.
Wir kommen zum Table du Jardinier, wo uns schon Schneidebretter, Messer und weitere Utensilien erwarten. Wie der Name des Restaurants es nahelegt, wird hier ganz nah an der Natur gekocht. Die Früchte des Gartens finden sich – ganz im Rhythmus der Jahreszeiten – auf der Speisekarte wieder. Man kann nicht nur vor Ort essen, sondern auch Speisen mit den Garten nehmen. Ein perfekte Symbiose.
Wir schnibbeln munter drauflos, unter Oliviers fachkundiger Anleitung, und zaubern innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe von Köstlichkeiten. Das Auge isst mit! Dazu gibt es einen gut gekühlten Cidre. La vie est belle!
Neugierig geworden?
Falls ihr neugierig geworden seid, so findet ihr alles Wissenswertes über die Abtei auf der Seite der Abbaye de Valloires. Informationen über den Besuch der Gärten finden sich hier. Die Gärten von Valloires können von April bis November in Begleitung eines Guides erkundet werden. Es gibt ein Kombiticket für den Besuch von Abtei und Garten. Und lecker essen oder auch selbst mit Wildpflanzen kochen könnt ihr am Table du Jardinier. Informationen über die gesamte Region Hauts-de-France gibt es auf der deutschsprachigen Seite des Tourismusverbandes.
Offenlegung
Ich hatte das große Glück, gemeinsam mit einer kleinen Gruppe deutscher Journalisten und Fotografen die Hauts-de-France besuchen zu dürfen. Myriam Maes vom Tourismusverband Hauts-de-France und Céline Florek von Somme Tourisme haben all diese Erlebnisse und Entdeckungen erst möglich gemacht. Mein ganz besonderer Dank gilt Jean-Claude Darras, der uns in den wunderbaren Garten von Valloires einführte, und seinem gastronomischen Mitstreiter, Küchenchef Olivier Gignon. Ich habe unfassbar viel gelernt. Die beschriebenen Eindrücke sind meine eigenen.