Isst du auch so gerne Muscheln? Allein das Wort Muscheln lässt bei mir Kindheitserinnerungen wachwerden und ich sehe sofort die kleinen Pappaufsteller wieder vor mir, die in den Kneipen und Restaurants in Köln und im ganzen Rheinland auf den Start der Muschelsaison hinwiesen. Die Spezialität waren – wie könnte es anders sein – Muscheln rheinische Art, mit Gemüsejulienne und reichlich Weißwein, bevorzugt Riesling, fein abgeschmeckt mit Lorbeer und Nelken. Manchmal wurden die Muscheln auch mit kleinen Stückchen Mettwurst serviert. Dazu gab es Schwarzbrot und Butter. Köstlich! Und die Muschelsaison, das sind alle Monate mit einem R – so sagt zumindest der Volksmund.
Später habe bei einer Reise durch Nordfrankreich Muscheln mit Maroilles probiert und war auch von dieser Variante hellauf begeistert. Maroilles ist ein Rohmilchkäse aus der kleinen picardischen Gemeinde Maroilles, der unfassbar stinkt, aber in einem Muschelgericht auch unfassbar lecker ist. Dazu gibt es natürlich Pommes, eine weitere Spezialität Nordfrankreichs.
Nie habe ich mich gefragt, woher die Muscheln eigentlich stammen. Die Muscheln, die ich im Rheinland gegessen habe, stammen von der Nordsee, das ist klar, aber wie werden Muscheln produziert? Dieser Frage bin ich nun in der Sommebucht nachgegangen.
Quend Plage les Pins
Wir fahren nach Quend Plage les Pins. Es ist Anfang Oktober und der Ort ist schon fast in den Winterschlaf gefallen. Die Touristen sind längst abgereist, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, welches Leben hier in den Sommermonaten herrscht. Jetzt aber haben wir den Blick auf das Wasser fast für uns alleine.
Ich könnte stundenlang hier am Strand sitzen und in die Ferne schauen. Nichts verstellt den Blick – man sieht nur Weite, Wolken und Wasser, und dazu habe ich das Kreischen der Möwen im Ohr. Die Sommebucht ist ein Paradies für alle, die die Stille der Natur suchen, und hier in Quend gibt es sagenhafte 15 Kilometer Strand, dazu Rad- und Wanderwege, die durch die Dünenlandschaft führen. Wer es sportlich mag, der kann sich im Sommer am Strandsegeln versuchen.
Wir ziehen unsere Gummistiefel an und laufen auf den Strand. Es ist Ebbe, das Wasser ist schon weit zurückgegangen und hat dabei einen enorm breiten Strand freigelegt. Nur in einigen Mulden steht noch das Wasser. Wir treffen Odile Tavernier, einen Naturguide der ganz besonderen Art. Odile möchte uns den Parc à moules de Bassieu zeigen.
Immer mit der Ruhe!
Schon der Spaziergang mit Odile über den Strand entschleunigt. Odile hat es nicht eilig. Sie schlägt ein ganz gemütliches Tempo ein und beobachtet dabei aufmerksam den Strand. Sie nimmt ein sogenanntes Couteau in die Hand, eine langgestreckte, ganz gerade Muschel, deren Namen wir uns fix mit Messer ins Deutsche übersetzen. Später schaue ich nach: es handelt sich um die schwertförmige Scheidenmuschel. Odile erzählt, dass diese Muschel aus der Normandie stammt und mit der Flut an die Strände der Sommebucht gespült wird. Die Normandie ist nicht weit entfernt, aber wenn man die Felsen von Dieppe nicht sieht, dann ist dies ein gutes Zeichen, ein Zeichen für gutes Wetter nämlich.
Schon hat Odile wieder etwas entdeckt: die leere und abgestorbene Hülle eines Rocheneis. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das Ei eines Rochens in diesem kleinen Säckchen vier bis neun Monate verbringt, bevor der Fisch schlüpft. Wie reich die Natur doch ist und wie acht- und ahnungslos wir doch sind!
Odiles nächstes Fundstück ist eine große Muschel, die oft aus der Bretagne stammt – Mye, eine Klaffmuschel. Bildhübsch.
Bei den Strandfischern
Wie nähern uns dem Wasser und entdecken einen Trupp rüstiger Rentner, die mit großen Netzen durch das mehr oder weniger seichte Wasser laufen, immer parallel zur Wasserkante. Pèche à pied – wörtlich übersetzt das Angeln zu Fuß, so nennt sich diese Beschäftigung. Die Gezeitenfischer oder Strandfischer sind Muschelsammler, die den Sand im flachen Gewässer ordentlich durchrütteln, um ihr weißes Gold zu finden.
Für professionelle Muschelsammler kann die Beschäftigung sehr einträglich sein. In guten Jahren ist für rund eine Stunde Arbeit ein Erlös von 200 bis 300 € drin. Allerdings wartet man auch rund 15 Jahre auf eine Lizenz. Mit 15 Jahren kann man diese Lizenz beantragen – und dann mit rund 30 Jahren in diesem Beruf durchstarten.
Für die älteren Herren hier ist die Muschelsuche eine reine Freizeitbeschäftigung und sportliche Betätigung zugleich. Robert Vosse, einer der Strandfischer, erzählt uns, dass er die gesammelten Muscheln reinigt und sortiert, dann genau drei Minuten kocht. Fertig ist der perfekte Begleiter zum Apéritif!
Bei den Muschelbänken
Wir sind an einem großen Feld mit rätselhaften Pfählen angekommen: der Muschelpark. Nur bei Ebbe ist er überhaupt sichtbar und kann besucht werden. Odile erklärt uns, was wir hier vor uns sehen. Ein Park oder auch eine Parzelle besteht aus Blöcken von fünf mal drei Reihen Pfählen. In einer Reihe finden sich 230 Pfähle, so dass man auf 3.450 Pfähle pro Park kommt. Mir schwirrt der Kopf und ich versuche, die Rechnung nachzuvollziehen, als Odile noch einen draufsetzt: auf einer Länge von 5 Kilometern finden sich hier 33 Muschelparks, in denen 14 Produzenten, sogenannte mytiliculteurs – Muschelbauern -, tätig sind. Ihr Produkt, das sind die moules de bouchot – ein bouchot bezeichnet eine Reihe von Pfählen.
Die französische Regierung hatte in den 1980er Jahren tatsächlich Weitsicht bewiesen, so erzählt Odile. Die Fischerei auf dem Meer wurde immer schwieriger, die Fangquoten reduziert, und hinzu kam der Streit mit den Briten um die Fanggebiete. Also bot man den Fischern eine alternative Beschäftigung an Land an – die Muschelbänke waren geboren.
Auf der Geburtsstation
Odile nimmt uns mit zum dem, was sie einen Tisch nennt. Ich sehe allerdings keinen Tisch, sondern parallel aufgestellte Balken. Tatsächlich stehen wir an einer Gebärstation für Muscheln. Um die Tischbeine flattern Plastikbänder, die verhindern sollen, dass Krabben hinaufklettern und die kleinen Muscheln fressen. Die Arbeit an den Muschelbänken erfolgt im Rhythmus der Jahreszeiten. Nach den Winterstürmen im Januar und Februar werden die Tische repariert und instandgesetzt. In den Balken sind in geringem Abstand Nägel eingeschlagen.
Ab Mitte März werden Kokosseile zwischen den Balken gespannt – sagenhafte 2,5 Kilometer an einem einzigen Tisch. Auf diesen Seilen docken die Larven an, die nach der Befruchtung schlüpfen – die sog. captage. Die Gezeiten sind extrem stark in den Hauts-de-France und nicht alle Larven schaffen es, sich an einen sicheren Platz auf den Kokosschnüren zu retten. In diesem Muschelpark werden also Kokosseile mit Larven auf der Insel Noirmoutier zugekauft. Ach ja, jeder Muschelpark verfügt über zwei Tische. Hier wird nichts dem Zufall überlassen und alles hat seine Ordnung.
Ungefähr Mitte Juni sind die Larven als winzig kleine Punkte an den Seilen zu erkennen. Sie wachsen heran und ab Mitte Juli werden dann die Kokosseile abgeschnitten und um die aufrecht stehenden Pfähle gewunden. Diese Arbeit zieht sich bis in den September hinein. Die Muscheln ernähren sich durch das Plankton, das mit der Flut herangespült wird, und ein Netz schützt sie vor den Angriffen hungriger Möwen.
Die Muscheln verbringen nun ein Jahr ihres Lebens am Pfahl. Im Juli des Folgejahres wird das schützende Netz abgenommen und die äußere Schicht der Muscheln per Hand abgeerntet. Die untere Muschelschicht verbringt einen zweiten Winter am Pfahl und wird im April des Folgejahres geerntet. Wenn die Pfähle wieder blank sind, sind sie bereit für ein neues Seil voller Larven. Der Kreislauf der Natur, von Menschenhand geordnet.
Wir fragen Odile, wann die Muscheln am besten schmecken. Ihre Antwort ist eindeutig: in den Sommermonaten, von Juli bis September. Die Wassertemperatur ist dann höher und das Plankton besonders schmackhaft. Wir müssen unsere alte Weisheit mit dem Monaten mit R begraben.
Wie geht´s weiter?
Die moules de bouchot sind sauber. Sie verbringen ihr Leben an Seilen und Pfählen, kommen also nie mit Sand in Berührung. Dennoch werden sie gereinigt. Der Zugang zu den Muschelbänken erfolgt für die Muschelbauern von Le Crotoy aus, und hier finden sich auch die Einrichtungen zur Reinigung. 12 Stunden Dusche mit Meerwasser, dann werden die Schalen saubergekratzt und die Füßchen abgerissen. Die Produzenten haben die Anlagen selbst aufgebaut und finanziert. Jeder Produzent hat seine eigene Türe, so dass die eigene Produktion nicht mit der anderer Produzenten in Berührung kommt. Die Muscheln werden in Säcke à 15 Kilo verpackt und mit der Nummer des Produzenten und der Nummer des Muschelparks versehen. So ist eine perfekte Rückverfolgung möglich. 90 % der Produktion werden lokal verkauft – an Restaurants, an Fischhändler und auf Märkten.
Köstliche Muscheln
Die Seeluft hat uns hungrig gemacht, und wir möchten jetzt die Muscheln natürlich auch verkosten. Wir steuern das Hotel-Restaurant La Terrasse in Fort Mahon an. Auch in diesem Badeort sind nicht mehr allzu viele Menschen unterwegs, die Strandbar wird gerade abgebaut, aber wir treffen gleich auf eine deutsche Familie, die uns von den Muscheln vorschwärmt. Das Äußere des Hotels ist unspektakulär, aber oftmals sind die wirklichen Attraktionen ja nicht auf den ersten Blick erkennbar. Zwei Servicemitarbeiter empfangen uns mit großer Herzlichkeit in dem geräumigen Restaurant und servieren gleich einen Safran-Schaumwein. Regionale Produkte werden hier wertgeschätzt und die Safranproduzenten stammen aus der Nachbarschaft.
Ganz klar, dass hier auch moules de bouchot serviert werden. Schon der Duft des Gerichts ist betörend, der Geschmack schlicht göttlich: Muscheln mit Lauch und Crevetten, dazu ein feines Sößchen – zum Niederknien. Wir tunken mit unserem Brot auch den allerletzten Rest Soße auf, wollen nicht einen Tropfen auf dem Teller zurücklassen.
Eins ist ganz klar: mein Respekt vor der Arbeit der Muschelbauern ist durch den Besuch in Quend enorm gestiegen. Ich werde sicherlich bei jedem Muschelessen an diesen sonnigen Vormittag mit Odile zurückdenken.
Offenlegung
Ich hatte das große Glück, gemeinsam mit einer kleinen Gruppe deutscher Journalisten und Fotografen die Hauts-de-France besuchen zu dürfen. Myriam Maes vom Tourismusverband Hauts-de-France und Céline Florek von Somme Tourisme haben all diese Erlebnisse und Entdeckungen erst möglich gemacht. Mein ganz besonderer Dank gilt Odile Tavernier von Norwoe Découvertes, die ahnungslose Landratten wie mich in die faszinierende Welt der Muschelbauern einführte. A bassieu (bei Niedrigwasser), so heißt der Parcours, den wir absolviert haben. Eine Führung kostet 13 € für Erwachsene und 6 € für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren – für diesen geringen Preis kann man eine ganz neue Welt entdecken. Die beschriebenen Eindrücke sind meine eigenen.
Na dann vielen Dank für diesen Artikel, liebe Monika! Jetzt habe ich Hunger und einen Riesen Appetit auf Muscheln!
Nein, Spaß. Wirklich ein interessanter Artikel. So manches wusste ich auch noch nicht – und wir sind ausgewiesene Muschelfans. Meine Kinder haben sich schon mit 3 – 4 Jahren für Moules u.a. begeistert. Nächstes Wochenende wird es wahrscheinlich ‚Moules frites‘ – Miesmuscheln mit hausgemachten Pommes geben.
Lieber Robert,
vielen Dank für diesen Kommentar! Das ist ja das Tolle an Pressereisen – man lernt immer etwas dazu… Lasst euch die Muscheln schmecken!
Viele Grüße
Monika