Nah am Wasser gebaut: Amiens

Im Quartier Saint LeuIm Quartier Saint Leu

Es gibt Städte, die sich auf kaum einer Bucket List finden und abseits der Touristenströme fast das Dasein eines Mauerblümchens fristen. Dabei sind es oftmals gerade diese Städte, die ihre Besucher umso mehr überraschen können und zahlreiche Geschichten zu erzählen wissen. Amiens, in den Hauts-de-France, der nördlichsten Region Frankreichs gelegen, ist für mich eine solche Entdeckung.

Zwischen den Gassen der Altstadt ragt die Kathedrale empor

Zwischen den Gassen der Altstadt ragt die Kathedrale empor

Die Kathedrale Notre-Dame

Wenn ich den Namen Amiens höre, dann kommt mir als allererstes die Kathedrale Notre-Dame in den Sinn. Ich muss an die Vorlesungen in Kunstgeschichte denken, die ich während meines Auslandssemesters in Clermont-Ferrand gehört habe. An den Namen des Dozenten kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an seine detaillierten Ausführungen zur Architektur der Kathedrale von Amiens. Die Perfektion und Harmonie dieses Bauwerks lassen wohl das Herz jedes Kunsthistorikers höher schlagen. Die Kathedrale ist das größte gotische Bauwerk Frankreichs mit 145 Metern Länge und 70 Metern Breite und verfügt über das höchste Kirchenschiff der Welt. Rekordverdächtig ist auch die Bauzeit von rund 60 Jahren. Der 1220 begonnene Bau wurde schon 1288 fertiggestellt. Als Kölnerin muss ich heftig schlucken, denn der Kölner Doms konnte erst nach sagenhaften 632 Jahren Bauzeit 1880 vollendet werden. Das heißt – wirklich fertig wird er nie, denn irgendwo ist immer ein Gerüst zu sehen und es wird gewerkelt. Wie sagt man so schön? So lange am Kölner Dom gebaut wird, geht die Welt nicht unter. Wovon man ausgehen kann: der Baumeister des Kölner Doms hat sich die Kathedrale von Amiens angesehen und war wahrscheinlich auch in Beauvais.

 

Noch ein Rekord: Die Kathedrale Notre-Dame wurde zweimal als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet: 1981 für ihre Architektur und das Mobiliar und 1988 als Teil des Jakobsweges.

Wir schauen uns das Hochrelief des Heiligen Firmin an. Es erzählt die Geschichte des ersten Bischofs von Amiens, seine Ankunft in der Stadt, sein Martyrium und die Überführung seiner Reliquie. Die Darstellung zeugt vom Selbstbewusstsein der Stadt, die eine ideale Lage für die Tuchhändler hatte und dadurch schnell Reichtum erlangte. Hier sind in den Farben des Mittelalters Bauwerke der Stadt zu erkennen – die Stadttore und der Belfried. Tatsächlich wurde die Kathedrale zu großen Teilen durch Spenden der Färberwaidhändler finanziert.

Das Hochrelief des Heiligen Firmin

Das Hochrelief des Heiligen Firmin

Meisterliche Kunst der Gotik

Meisterliche Kunst der Gotik

Der weinende Engel wurde 1628 von Nicolas Blasset gestaltet und schmückt das Grab des Domherren Guilain Lucas. Sein Bild ging einst um die Welt, denn die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg hier kämpften, schickten ihn auf Postkarten an ihre Familien. Die europäische Geschichte ist hier in greifbarer Nähe.

Der weinende Engel - Erinnerung an den Ersten Weltkrieg

Der weinende Engel – Erinnerung an den Ersten Weltkrieg

Wir kommen zum Labyrinth – einst ein 234 Meter langer Büßerweg für die Gläubigen. Auf dem Mittelstein sind die Namen der Erbauer verewigt.

Im Zentrum des Labyrinths

Im Zentrum des Labyrinths

Die Westfassade der Kathedrale von Amiens verfügt über drei prächtige Portale. Das Hauptportal – das sog. Erlöserportal – zeigt Aposteln und Propheten, das linke Portal ist dem Hl. Firmin gewidmet, das rechte der Hl. Maria. Wir nehmen uns viel Zeit, die einzelnen Figuren anzuschauen und gehen auf eine Reise durch die Jahreszeiten.

Die prachtvolle Westfassade der Kathedrale

Die prachtvolle Westfassade der Kathedrale

Spaziergang durch St. Leu

Die gotische Kunst der Kathedrale ist unglaublich beeindruckend, aber wir möchten auch etwas vom zeitgenössischen Amiens sehen. Von der Oberstadt und dem Viertel Notre-Dame laufen wir über eine Fußgängerbrücke in Richtung der Unterstadt, ins Viertel Saint-Leu. Hier wird deutlich, wie sehr Amiens vom Wasser geprägt ist. Kanäle durchziehen das Stadtviertel.

 

Das Viertel Saint-Leu entstand im Mittelalter. Das Wasser der Kanäle lieferte die Energie für den Betrieb der Mühlen der Handwerker. Die Häuser entlang des Wassers sind klein und farbenfroh, manchmal auch krumm und schief. Am Himmel erscheint ein ganz magisches Licht und lässt die Fassaden leuchten. Mir wird klar, warum dieses Stadtviertel auch das ´Venedig des Nordens´ genannt wird. Saint-Leu ist eine einzige Einladung zum Flanieren.

 

Das junge Amiens: Streetart

Amiens ist eine enorm junge Stadt. Auf die knapp 135.000 Einwohner der Stadt kommen über 30.000 Studierende, und rund 40 % der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Die Universität der Picardie Jules Verne ist nicht weit vom Viertel Saint-Leu entfernt. Besucher sind eingeladen, einen Parcours voller Streetart zu absolvieren.

Das Epos von Gilgamesch, dem Mann, der nicht sterben wollte. Jo Ber & Poes

Das Epos von Gilgamesch, dem Mann, der nicht sterben wollte. Jo Ber & Poes

 

Farbenfrohe Fassaden wechseln sich ab mit kleinen, fast unscheinbaren Werken, an denen man vielleicht vorbeiläuft, wenn man zu eilig durch die Stadt geht.

Das Leben ist kurz - beeile dich zu staunen

Das Leben ist kurz – beeile dich zu staunen

Pünktchen und tanzende Sterne

Pünktchen und tanzende Sterne

An einer Fußgängerbrücke am Quai Bélu bietet sich uns wieder ein phantastischer Ausblick auf die Kathedrale und ganz versteckt erinnert eine kleine Tafel an Catherine Ringer – die eine Hälfte von Les Rita Mitsouko und Musik-Ikone der 1980er und 1990er Jahre.

Musikikone Catherine Ringer

Musikikone Catherine Ringer

Die Kathedrale immer im Blick

Die Kathedrale immer im Blick

Köstlich speisen: Le Quai

Am Quai Bélu tobt das Leben. Ein Lokal reiht sich hier an das nächste und ganz Amiens scheint auf den Füßen. Wir steuern das Restaurant Le Quai an. Die Stadtbesichtigung hat uns hungrig gemacht und wir wollen endlich die Spezialitäten Nordfrankreichs probieren.

Im Restaurant ´Le Quai´

Im Restaurant ´Le Quai´

Das Ambiente des Restaurants ist modern, die Speisekarte kreativ. Sobald man die Karte aufschlägt, wird deutlich, dass der Küchenchef auf regionale Produkte setzt. Die Lieferanten des Restaurants sind aufgelistet, mit der Angabe des jeweiligen Départements.

 

Ich entscheide mich für eine traditionelle Ficelle Picarde, einen Pfannkuchen, der mit Schinken, Champignons und Schalotten gefüllt und mit einem feinem Sößchen mit viel Crème fraîche ertränkt wird. Auf dieses ganz leichte Vorspeise folgt eine Carbonade de Joue de Porc, also Schweinebäckchen mit viel Gemüse, natürlich aus Amiens, und als krönender Abschluss ein Pomme au four, ein Bratapfel mit Karamell. Jetzt hilft nur noch ein Espresso!

Le Quai by night

Le Quai by night

Amiens leuchtet

Amiens leuchtet

Feuchtgebiete: Die Hortillonages

Wir haben kein Glück mit dem Wetter, als wir uns aufmachen, eine weitere Attraktion von Amiens zu erkunden. Wir besteigen hölzerne Barken und haben das Wasser nicht nur unter uns, nein, es schüttet auch von oben. Und wird dennoch eines sehr schnell klar: Die Hortillonages, die Gärten von Amiens, sind ein Idyll von wilder Schönheit. Garten-Inseln, Privatgärten und Bio-Gemüsegärten, so weit das Auge reicht. Das Gelände wird von einem 65 Kilometer langen Netz von Wasserläufen und -kanälen eines alten Betts der Somme durchzogen. Wer gerne in einem ganz langsamen Rhythmus auf Entdeckungsreise geht, der ist hier genau richtig.

 

Wir treffen Francis Parmentier, einen von noch acht verbliebenen Gemüsebauern. Das schlechte Wetter macht ihm nichts aus. Er steht im Regen, während das Wasser ihm vom Kragen läuft, und erzählt uns, dass er ja auch bei der Arbeit auf dem Feld manchmal nass wird. Die Gemüsegärten gibt es seit der Antike und sie stellen heute eine in Frankreich einzigartige Landschaft dar. Die einzelnen Parzellen sind von Wasser umgeben und nur mit dem Boot zugänglich. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch rund 1.000 Gemüsebauern, die hier in Amiens produzierten. Torf wurde ebenso hergestellt. Heute hält Francis als einer von 9 Erzeugern die alte Tradition am Leben. Wenn er seine Tochter mit einrechnet, dann ist Francis´ Unternehmen in der dritten Generation tätig. Vier Parzellen sind Eigentum der Familie, die insgesamt 13 Felder bewirtschaftet. Als er sich 1987 hier ansiedelte, begann er mit fünf oder sechs Gemüsesorten. Heute sind es 42, auch alte Sorten – Kohl, Rettich, Karotten, rote Bete, Tomaten, Lauch und andere mehr.

 

Francis erzählt uns von seiner ersten Begegnung mit Gilbert Fillinger, dem elsässischen Direktor der Maison de la Culture, des Kulturhauses von Amiens. Fillinger hatte sich am Fuß verletzt und musste sich auf Anraten seines Arztes viel bewegen. Er ist in den alten Gemüsegärten unterwegs, von denen aus einst die Stadt versorgt wurde. Das Gelände ist verwildert, denn seit den 1950er Jahren ist der Gemüseanbau zurückgegangen. Fillinger möchte mit einem der verbleibenden Gemüsebauern sprechen, bekommt Parmentier aber zunächst nicht ans Telefon, bis bei dem dann doch die Neugierde überwiegt. Er ruft zurück, und die beiden verabreden sich in den Hortillonages. Innerhalb von 10 Minuten ist das Projekt beschlossene Sache und die Idee einer neuen Nutzung der alten Gärten und des Internationalen Gartenfestivals geboren.

Banana Republic!

Banana Republic!

300 Hektar ist das sumpfige Gebiet groß. Die Gemüsebauern nutzen heute noch rund 10 % des Geländes. Sie verkaufen ihre Produktion jeden Samstag am Quai Parmentier, im Quartier Saint-Leu. Einmal im Jahr findet auch noch ein schwimmender Markt statt, bei dem die Gemüsebauern ihre Produktion vom Boot aus verkaufen – ganz wie anno dazumal.

 

Die übrigen 90 % des Geländes werden heute als Ziergärten genutzt und sind mit Kunstwerken getupft. Garten-Kunst der ganz besonderen Art! Und eine phantastische Spielwiese für Landschaftsarchitekten und junge Künstler. Das Festival konnte 2022 bereits seine 13. Ausgabe feiern und jedes Jahr kommen neue Werke hinzu. Mir ist sofort klar: ich muss bei schönem Wetter wiederkommen und mir viel Zeit nehmen für die Entdeckung der Hortillonages!

Le Pavillon Bleu

Wildes Geschrei dringt an unsere Ohren, als wir am Pavillon Bleu ankommen. Wir rätseln zunächst, ob wir Kinder oder Tiere hören. Des Rätsels Lösung: Unser Ziel liegt direkt am Zoo von Amiens. Der Pavillon Blue war ursprünglich einmal eine Molkerei und wurde später als Guinguette genutzt, war ein beliebtes Ausflugsziel der Bevölkerung von Amiens.

Tataki de thon - von der Bistrokarte des Pavillon Bleu

Tataki de thon – von der Bistrokarte des Pavillon Bleu

Und heute? Ein wunderbares Lokal mit frischer, von regionalen Produkten geprägter Küche. Bistronomie vom Feinsten!

Assiette gourmande - für alle, die sich nicht entscheiden können

Assiette gourmande – für alle, die sich nicht entscheiden können

Flohmarkt! Die Réderie von Amiens

Mögt ihr auch so gerne Flohmärkte? Schon gleich morgens früh merke ich, dass heute alles anders ist. Normalerweise habe ich als Frühaufsteher den Frühstücksraum erst einmal sehr lange für mich alleine. Aber nicht heute, denn im Saal schwirren schon die Stimmen. Ich höre ein babylonisches Sprachengewirr, und kaum dass es hell wird, setzt sich der halbe Frühstücksraum in Bewegung.

 

In den Straßen von Amiens ist Flohmarkt! Die Réderie findet zweimal im Jahr statt, im Frühling und im Herbst, und zieht jeweils rund 2.000 Aussteller sowie Besucher aus ganz Europa an. Was mir gut gefällt: die einzelnen Stände Flohmarkts sind weit auseinandergezogen. Wo sonst die Stände dicht an dicht stehen, ist hier viel Platz. Ich kann mich kaum sattsehen an dem prachtvollen Sortiment der Händler. Wunderschöne alte Möbel, Zinkwannen, prachtvolle Kaffeemühlen, Porzellan und Glaswaren. Viel Englisch und Niederländisch ist zu hören, und die Besucher sind gut ausgestattet und haben Bollerwagen oder Koffer dabei, um die erstandenen Schnäppchen gut abtransportieren zu können. Mein Blick fällt auf einen Stapel Bananenkartons, den ein Händler neben seinem Stand aufgetürmt hat: Bananen aus Martinique…

Wunderbar wohnen: Ibis Styles

Unsere perfekte Basis zur Entdeckung von Amiens ist das Hotel Ibis Styles Amiens Centre. Es hat nicht nur eine perfekte Lage, wenige Schritte vom Hauptbahnhof und vom historischen Stadtzentrum entfernt, sondern lockt mit einer gut bestückten Candy Bar. Daneben gibt es eine weitere Energiequelle im Erdgeschoss des Hauses, nämlich eine Kaffeemaschine, bei der man sich den ganzen Tag mit Koffein versorgen kann, so lange das Herz mitspielt. Das tut so gut! Und Jules Verne, der in Amiens seine Wahlheimat gefunden hatte, begegnen mir auch immer wieder.

Neugierig geworden?

Wenn ihr neugierig geworden seid auf das noch so unbekannte Amiens, dann schaut euch auf der deutschsprachigen Seite des Office de Tourisme um. Ganz aktuell ist auch ein Rundgang auf den Spuren von Jules Verne – 16 Etappen, die einen literarischen, touristischen und kulturellen Parcours bieten. Jules Verne ist zwar in Nantes geboren kam aber 1856 nach Amiens und lebte ab 1871 auch hier als aktives Mitglied der Gemeinde.

Es gibt viel Natur in der Stadt zu entdecken, aber auch eine reiche kulturelle Landschaft und eine tolle Gastronomie. Die Macarons d´Amiens solltet ihr unbedingt probieren! Eine unvergleichliche Köstlichkeit aus Mandeln, Früchten und Honig – eingeführt unter Katharina von Medici und von Jean Trogneux perfektioniert. Als kleinen Appetithappen könnt ihr auch einen Blick in La France en Patisserie werfen – dort ist den Macarons d´Amiens ein Kapitel gewidmet.

Übrigens: Amiens bewirbt sich um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2028. Ich drücke ganz fest die Daumen!

Der Blick vom Quai Belu zur Kathedrale

Der Blick vom Quai Belu zur Kathedrale

Offenlegung

Ich hatte das große Glück, mit einer kleinen Gruppe von Journalisten und Fotografen Amiens und die Sommebucht entdecken zu dürfen. Myriam Maes vom Tourismusverband der Hauts-de-France und Céline Florek von Somme Tourisme haben sich ein Programm ausgedacht, dass mich staunen ließ, so vielfältig waren die Entdeckungen. Mein besonderer Dank gilt Julia Maassen für die überaus spannende Führung durch Amiens. Die beschriebenen Eindrücke sind meine eigenen.

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