Wismar auf’s Dach steigen

Wismar hat sich ordentlich herausgeputzt!Wismar hat sich ordentlich herausgeputzt!

Findet ihr Architektur auch so aufregend? Es muss gar keine moderne Architektur sein. Die kann natürlich auch reizvoll und spannend sein, manchmal ist sie allerdings auch einfach fehl am Platz. Mich ziehen die wuchtigen Bauten der Backsteingotik magisch an. Und so mache ich mich auf zu einer Entdeckungsreise nach Wismar. 

Norddeutsche Backsteingotik

Wismar ist mit nicht einmal 45.000 Einwohnern ein kleines Städtchen, aber dennoch die sechstgrößte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns. Die Stadt erlebte als Mitglied der Hanse ihre Blütezeit im späten Mittelalter. Anno 1259 trafen sich Abgesandte aus Lübeck und Rostock in Wismar mit dem Ziel, einen Schutzbund gegen Seeräuberei zu schließen und die Transportwege zu sichern. Viele Bauten aus dieser Zeit des Wohlstands sind in Wismar noch erhalten. Eine echte Wucht aber sind die monumentalen Backsteinkirchen, die schon von Weitem sichtbar sind und das Stadtbild prägen. 

St. Nikolai mit prunkvoller Dekoration

St. Nikolai mit prunkvoller Dekoration

Außergewöhnliche Gewölbeführung in St. Nikolai

Vom Bahnhof kommend, stoße ich unweigerlich auf die St.-Nikolai-Kirche, ein monumentaler und reich geschmückter Backsteinbau. Nikolaus gilt als der Schutzpatron der Seefahrer, Schiffer, Fischer und Kaufleute. Dem heiligen Nikolaus von Myra wurde nachgesagt, dass er den Sturm stillen könne. Dies erklärt, warum es so viele Nikolaus-Kirchen in den Hanse- und Hafenstädten gibt. Unsere heutigen Seenotretter haben die Farbe seiner Arbeitskleidung übernommen. 

Wuchtige Architektur: die Kirche St. Nikolei in Wismar

Wuchtige Architektur: die Kirche St. Nikolei in Wismar

Die Nikolai-Kirche in Wismar wurde zwischen 1381 und 1487 erbaut. Der Bau der heutigen Kirche begann im 14. Jahrhundert. Der dreischiffige Bau hat ein 37 Meter hohes Langhaus und ist damit das vierthöchste Kirchenschiff Deutschlands. Die Marienkirche in Lübeck ist nur 1,5 Meter höher.

Ein Blick auf die Orgel der Nikolaikirche

Ein Blick auf die Orgel der Nikolaikirche

Der Krämer-Altar aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stand ursprünglich in St. Marien

Der Krämer-Altar aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stand ursprünglich in St. Marien

In diesem Moment geschieht mein kleines Nikolaus-Wunder, denn aus dem Nichts taucht plötzlich eine ältere Dame auf – eine Gästeführerin, die allen, die sich gerade in der Kirche umschauen, eine Besichtigung des Gewölbes vorschlägt. Sie bietet die Touren auf freiwilliger Basis und in Abstimmung mit der Kirche an. Ich zögere nur ganz kurz, immerhin strahlt draußen die Sonne, denke mir dann aber, dass ich solch eine Gelegenheit unbedingt nutzen sollte. Und die Tour erweist sich als äußerst spannend. 

Kaum stehen wir draußen, weist unser Guide uns auf einige Löcher im Mauerwerk hin – typisch für Kirchen an der Ostsee, denn hier dachte man gleich an die notwendigen Vorrichtungen für  Gerüstbauer. Ich denke mir, Gästeführer wissen einfach mehr. Und schon steigen wir 95 Stufen über eine enge Wendeltreppe in die Höhe. Allgemeines Schnaufen in der Enge des Turms, aber was für ein Anblick, als wir oben ankommen!

Der Dachstuhl aus 650 Jahre altem Eichenholz

Der Dachstuhl aus 650 Jahre altem Eichenholz

Ich bin voller Ehrfurcht angesichts dieses Dachstuhls. Die Eiche, die hier verbaut wurde, ist sagenhafte 650 Jahre alt. Und echte Handarbeit: es gab schließlich noch keine Sägewerke, sondern jeder Baum wurde gebeilt, jeder Stamm sieht deshalb unterschiedlich aus. Zum Stabilisieren nutzte man die Methode des Verzapfens. An manchen Balken sind Holznägel zu sehen. Heute ist der Dachstuhl natürlich mit modernen Methoden gesichert, aber eins ist klar: damals wurde für die Ewigkeit gebaut. Mit Erfolg. 

Hier sind die Holznägel gut sichtbar

Hier sind die Holznägel gut sichtbar

Der Unterbau der Nikolai-Kirche ist aus Backstein errichtet und stabil. Der Kirchturm ist heute 64 Meter hoch, der 1508 aufgesetzte Turmhelm war jedoch ursprünglich doppelt so hoch. 1703 stürzte der hölzerne Aufbau jedoch bei einem Orkan ein. Die Trümmerteile zerschlugen das Dach und das Gewölbe des Langschiffs sowie den Innenraum. Dies erklärt den heutigen Mix der Epochen im Kircheninneren. 

Der Weg durch den Dachstuhl der Nikolaikirche

Der Weg durch den Dachstuhl der Nikolaikirche

Unser Weg führt uns über das Seitenschiff und erlaubt einen Blick in das Backsteingewölbe des Hauptschiffs. Hier sollte man höhenfest sein! Ich bewundere den Ostseemörtel, der – aus Seesand, Muschelkalk und Quark bestehend – hier auf den Kuppeln des Gewölbes verarbeitet wurde. 

 

Auch die verarbeiteten Backsteine schauen wir uns genauer an. Die Steine sind 15 cm lang und individuell gekennzeichnet. Aber, und das ist der Knackpunkt: jede Stadt nutze ein anderes Maß. Diebstahl war zwecklos. Ganz schön gerissen, unsere Vorfahren!

Baumaterial - passt nur in Wismar

Baumaterial – passt nur in Wismar

Heinrich von Bremen war der erste von insgesamt drei Baumeistern, die in der Nikolaikirche tätig waren. Viel Zeit musste aufgewandt werden, um Pfähle zur Stabilisierung in den Boden zu rammen. Damals waren rund 200 Bierbrauereien in Wismar ansässig und es gab einen regen Handel mit Skandinavien: Bier gegen Steine. 90 % der alten Bauteile stehen noch. 1995 wurde das Dach der Nikolai-Kirche neu gedeckt und bei dieser Gelegenheit erneuerte man auch einige der Dachbalken. Was für ein prachtvolles Bauwerk! Als Teil der Wismarer Altstadt ist die Nikolai-Kirche seit 2002 als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet. 

Das Schabbelhaus - Museum zur Stadtgeschichte Wismars

Das Schabbelhaus – Museum zur Stadtgeschichte Wismars

Café & Galerie Sinnenreich

Einen Ort der Stille und der Einkehr der ganz anderen Art finde ich gleich neben der Nikolai-Kirche. Einige Sitzplätze finden sich gleich vor dem Jugendstilhaus, aber mich zieht es ins Innere. Zwischen Kunst und Krempel kann man sich hier bei einer guten Tasse Kaffee und hausgemachtem Kuchen stärken. Die liebevoll gestaltete Flohmarktatmosphäre im Sinnenreich hat mir ausgesprochen gut gefallen, vor allem auch, weil man als Gast eingeladen ist, zu verweilen. 

Café Sinnenreich - Wer kann hier widerstehen?

Café Sinnenreich – Wer kann hier widerstehen?

Leckerer Kuchen hält Leib und Seele zusammen!

Leckerer Kuchen hält Leib und Seele zusammen!

Was ist Trödel, was Kunst?

Was ist Trödel, was Kunst?

So eine Schweinerei!

Frisch gestärkt mache ich mich an die Erkundung der Stadt und stoße sogleich auf eine ordentliche Schweinerei. Vier lachende Bronzeschweine zieren die Eckpfosten der Schweinsbrücke. Das tierische Werk stammt von Bildhauer Christian Wetzel, der damit an die Zeit erinnern will, in der Schweine noch auf diesem Weg zum Markt getrieben wurden. Heute sind die Schweinchen ganz offensichtlich ein echter Touristenmagnet und der perfekte Platz für ein Selfie. 

 

Wismarer Weisheit

Wismarer Weisheit

Entlang der Grube

Die Schweinsbrücke führt über die Grube, den Wasserlauf, der die Altstadt Wismars durchquert und bis zum Alten Hafen führt. Bereits im 13. Jahrhundert wurde hier ein natürlicher Wasserlauf künstlich erweitert und befestigt. Die Bewohner Wismars versorgten sich hier mit Trinkwasser und wuschen ihre Wäsche. Die Wasserkraft trieb zudem Mühlräder an. 

Die Grube - dieser Wasserlauf durchquert die Altstadt Wismars

Die Grube – dieser Wasserlauf durchquert die Altstadt Wismars

Logenplatz an der Grube, mit Blick auf die Nikolaikirche

Logenplatz an der Grube, mit Blick auf die Nikolaikirche

Alter Waschplatz an der Grube in Wismar

Alter Waschplatz an der Grube in Wismar

Historisches Bauwerk: das Gewölbe am alten Hafen von Wismar

Historisches Bauwerk: das Gewölbe am alten Hafen von Wismar

Das Gewölbe am Alten Hafen - heute genutzt als Ferienwohnungen

Das Gewölbe am Alten Hafen – heute genutzt als Ferienwohnungen

Am Wassertor

Das Wassertor ist das letzte von ursprünglich fünf Stadttoren. Es wurde 1450 natürlich auch in Backsteinbauweise errichtet und bildet die einzige Möglichkeit, vom Hafen in die Stadt zu gelangen. Typisch ist hier der spätgotische Stufengiebel. 

 

Am Alten Hafen

Am Alten Hafen lässt sich die lange Tradition der Seefahrt in Wismar erahnen. Die  salzhaltige Seeluft kitzelt mich in der Nase und dazu kreischen die Möwen. Eine alte Kogge liegt hier vor Anker und Ausflugsboote warten auf Passagiere. Einige alte Backsteinbauten und natürlich die großen Speicherhäuser erinnern an die Zeit der Seefahrt und des Handels. So sehr ich das maritime Flair auch mag: Ich drehe recht schnell ab, denn hier wird es mir etwas zu voll. Eine kleine Kirmes bringt ordentlich Leben in den Hafen. Ich schlendere lieber in Richtung Altstadt und Rathaus. 

Am Hafen von Wismar

Am Hafen von Wismar

Die schmucke Altstadt 

Der Wismarer Marktplatz lässt mich staunen. Der Platz ist schlicht riesig und zählt mit rund 10.000 Quadratmetern zu den größten Plätzen Norddeutschlands. Das Rathaus an der Nordseite des Platzes fällt auch nicht gerade durch eine bescheidene Größe auf. Der klassizistische Bau wurde nach Plänen des Hofbaumeisters Johann Georg Barca zwischen 1817 und 1819 errichtet, nachdem das ursprünglich spätgotische Rathaus 1807 in sich zusammengefallen war. 

Wuchtige Dimensionen: Das Rathaus der Stadt Wismar

Wuchtige Dimensionen: Das Rathaus der Stadt Wismar

Die Fassade des Wismarer Rathauses

Die Fassade des Wismarer Rathauses

Der Marktplatz wird von prachtvollen Giebelhäusern unterschiedlicher Epochen eingerahmt. Ein besonders prächtiger Backsteinbau trägt heute den Namen Alter Schwede. Es wurde 1380 erbaut und ist eins der ältesten noch erhaltenen Bürgerhäuser. Der Name ist eine Erinnerung an die Schwedenzeit der Stadt. Wismar wird durch den Westfälischen Frieden Schweden zugesprochen. Die strategisch günstige Lage machte Wismar zum Objekt der Begierde der nordischen Mächte. Erst 1903 wird Wismar wieder mecklenburgisch. 

Rechts der ´Alte Schwede´, erbaut 1380

Rechts der ´Alte Schwede´, erbaut 1380

Mitten auf dem Marktplatz befindet sich die Wismarer Wasserkunst, ein pavillonartiger Bau, der bis 1897 der Wasserversorgung der Bevölkerung diente. Der Utrechter Baumeister Philipp Brandin zeichnete die Pläne im Stil der niederländischen Renaissance und lieferte den Beweis, dass zweckmäßige Bauten durchaus schön sein können. Die Bauzeit war etwas länger, von 1579 bis 1602, aber das Warten auf die Vollendung hat sich gelohnt. 

Die Wismarer Wasserkunst

Die Wismarer Wasserkunst

Das Marien-Forum

Ganz in der Nähe von Marktplatz und Rathaus liegt die Marienkirche – bzw. das, was von ihr übrig ist. Die Marienkirche war einst die Hauptkirche der Stadt. Sie war zunächst im 13. Jahrhundert als Hallenkirche erbaut, wurde dann aber ab 1339 nach dem französischen Modell einer dreischiffigen Basilika neu erbaut. Um 1450 wurde dann der Kirchturm um drei Stockwerke aufgestockt – bis zu einer Höhe von 80 Metern. 

Mahnmal: Der Turm der Marienkirche

Mahnmal: Der Turm der Marienkirche

Das Unheil kam mit dem Zweiten Weltkrieg. Im April 1945 wurde die Marienkirche durch Luftminen so stark beschädigt, dass die Gewölbe einstürzten. 1960 beschloss der Stadtrat auf Veranlassung der SED und gegen vereinzelte Proteste der Bevölkerung, den Kirchenbau zu sprengen und das Gestein abzutragen. Als Mahnmal blieb nur der Kirchturm stehen – er wurde zudem als Seezeichen für die Schifffahrt benötigt.  

Gottlob Frege, in Wismar geborener Mathematiker, Logiker und Philosoph

Gottlob Frege, in Wismar geborener Mathematiker, Logiker und Philosoph

Kräftemessen auf dem Marien-Forum

Kräftemessen auf dem Marien-Forum

Der sozialistische Bruderstaat war nicht von Dauer und nach der deutschen Wiedervereinigung machen sich Archäologen an die Arbeit. Zwischen 2001 und 2018 führten sie umfangreiche Grabungen durch und machten die Umrisse des einstigen Kirchenbaus sichtbar. Das Marienforum ist heute ein Ort der Begegnung, der die Spuren der Vergangenheit sichtbar macht. 

Sonnenbad auf dem Marien-Forum - heute ein Ort der Begegnung

Sonnenbad auf dem Marien-Forum – heute ein Ort der Begegnung

Eine Werbeikone: Die Persil-Uhr

Bevor ich mich wieder auf den Weg zum Bahnhof mache, statte ich noch einer Ikone der Werbung einen Besuch ab: die „Weiße Dame“ am Lindengarten und vor dem ehemaligen Königlich-schwedischen Provianthaus ziert eine von rund 20 in Deutschland noch verbleibenden Persil-Uhren. Damals hatte Werbung noch Stil: Eine junge Frau, ganz in Weiß gekleidet und mit Florentiner-Hut, hält eine Waschmittelpackung in der Hand. Sie ist ein Werk des Berliner Künstlers und Karikaturisten Kurt Heiligenstaedt, der hier 1922 seiner Freundin ein Denkmal setzte. Eine Influencerin der frühen Stunde, und zum Glück ohne Social-Media-Auftritt. 

Die Persil-Uhr - eine frühe Werbeikone

Die Persil-Uhr – eine frühe Werbeikone

Neugierig geworden?

Falls ihr neugierig geworden seid auf die Hansestadt Wismar, dann schaut doch einmal auf den Seiten der Stadt vorbei. Unter der Rubrik Tourismus finden sich hier noch manche gute Gründe für einen Besuch in der Hansestadt. Über die zahlreichen Entdeckungsmöglichkeiten im Umland informieren die Seiten des Tourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern

Die Gassen von Wismar laden zum Flanieren ein

Die Gassen von Wismar laden zum Flanieren ein

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