Seid ihr auch schon so alt, dass ihr als Abschlussfahrt der 10. Klasse die klassische Berlinfahrt erlebt habt? Unglaublich, dass es mittlerweile mehrere Generationen in Deutschland gibt, die nie erlebt haben, dass Deutschland einmal geteilt war, dass es zwei deutschen Staaten gab, die sich verfeindet gegenüberstanden, stellvertretend für einen West- und einen Ostblock, und das trotz aller familiären, geschichtlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten.
Am meinem Kölner Gymnasium wurde damals nicht diskutiert, wo die Abschlussfahrt der 10. Klasse hinführen sollte. Berlin war das Ziel, für alle. Und wir sollten erleben, was es bedeutet, in einem geteilten Land zu leben. Die Fahrt ging mit dem Zug nach Berlin, natürlich in den Westen, in eine Kreuzberger Jugendherberge. Ein Tag in Ostberlin stand auf dem Programm, mit Grenzkontrollen, Zwangsumtausch und allem, was dazu gehörte. Ich kann mich noch erinnern, dass wir mit einer U-Bahn gefahren sind, die auch durch den Osten der Stadt fuhr. Es gab keinen Halt, aber wir fuhren durch einen Geisterbahnhof, in dem bewaffnete Soldaten Spalier standen. Was ich noch von dem Tag im Osten weiß? Die Menschen haben uns auf die Schuhe gestarrt. Die Läden waren leergefegt, und wir hatten Mühe, unseren Zwangsumtausch auszugeben. Ich kann mich an klebrig-bunte Törtchen erinnern. Die mochte ich schon damals nicht, aber das Geld musste ja weniger werden. Und eine Schallplatte von Milva habe ich nur gekauft, um mein Ostgeld loszuwerden. Was hatte ich für einen Schiss, gegen Abend, als wir zurück sind nach Westberlin. Ich hatte noch Münzen in der Tasche… Aber alles ging gut, wir sind wieder ausgereist und ich glaube, wir haben auch einen Stempel in den Ausweis bekommen. In Berlin stößt man überall auf die Spuren der deutschen Teilung, aber es gibt einen Ort, der die deutsche Geschichte besonders greifbar macht: der sogenannte Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße. Die Abfertigungshalle diente dem SED-Regime bis 1990 für die Ausreise nach West-Berlin.
Der Bahnhof Friedrichstraße
Ganz offen, transparent und luftig-leicht wirkt die Abfertigungshalle aus der Ferne, vor allem, wenn die Sonne strahlt. Der Bahnhof Friedrichstraße wurde früh zum Knotenpunkt des Berliner Verkehrs. Er wurde geplant und gebaut vom Architekten Johannes Vollmer zwischen 1878 und 1882 als Teil der neuen innerstädtischen Hochbahn. Berlin wuchs im 19. Jahrhundert rasant und das Verkehrsaufkommen vervielfachte sich. Im Jahr 1884 hielten am Bahnhof Friedrichstraße täglich mehr als 300 Nah- und Fernzüge.
Der Bahnhof wird im Lauf seiner Geschichte umgebaut und vergrößert. 1923 wird er an das U-Bahn-Netz angeschlossen und in den Folgejahren entsteht eine neue zweischiffige Halle. 1936 eröffnet eine Untergrundstation der S-Bahn, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch wird der Bahnhof durch Bombenangriffe zerstört.
Durch den Mauerbau wird der Bahnhof Friedrichstraße zum wichtigsten Berliner Grenzübergang. Das SED-Regime errichtet vor dem eigentlichen Bahnhof eine Halle zur Kontrolle der Reisenden. Ein Gang führt dann zum eigentlichen Bahnhof. Der Entwurf des Architekten Horst Lüderitz wirkt elegant und luftig, aber im Volksmund wird der Bau schnell ´Tränenpalast´ genannt. Die Bilder vom Mauerfall sind wohl in unser kollektives Gedächtnis eingegangen – ein Tag der Freudentränen. Am 9. November 1989 werden die Grenzen geöffnet und der Bahnhof Friedrichstraße ist sofort überfüllt, weil unzählige Ostdeutsche die neue Reisefreiheit nutzen, um in den Westen zu fahren. Am 1. Juli 1990 verliert der Tränenpalast seine Funktion, denn die DDR stellt die Grenzkontrollen ein. Bis 2006 wird der Ort für kulturelle Veranstaltungen genutzt.
Koffer voller Geschichten
Dass Geschichte nicht nur nackte Zahlen bedeutet, das zeigt sich gleich im ersten Teil der Ausstellung. Hier stehen Koffer voller Geschichten, und man kann sich anhand einzelner Objekte und Erzählungen in das Schicksal einzelner Menschen hineinversetzen. Es lohnt sich unbedingt, sich Zeit für die Hörstationen zu nehmen, die in Deutsch und Englisch verfügbar sind. Unzählige Objekte machen die Biografien der Menschen greifbar. Die Art der Darstellung erinnert mich an das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven, wo man die Ausstellung ebenfalls anhand eines persönlichen Schicksals erleben kann
In der Kontrollkabine
Zu sehen ist auch eine Original-Kontrollkabine, in der ich mich sofort ganz klein fühle. Man kann erahnen, was eine Abfertigung hier bedeutete. Stempel, Pässe, auch die Mütze eines Grenzbeamten werden gezeigt.
Leicht skurril wird es, wenn es um das Anschauungs- und Schulungsmaterial für die Grenzbeamten geht. Hier werden Kopfformen und Gesichtspartien dargestellt und vermeintlich auf wissenschaftlicher Basis analysiert. Geschult wurden die Grenzer auch, was mögliche Schmuggelverstecke angeht. Ein lückenloses Überwachungssystem, in der Ausstellung ergänzt durch die Fotos und Spitzelberichte von Mitarbeitern der Staatssicherheit.
Mikrokosmos Bahnhof
Der Bahnhof Friedrichstraße ist ein Mikrokosmos der deutschen Teilung. Sehr spannend finde ich die Zeugnisse der Menschen, die einst im Bahnhof gearbeitet haben. Da ist die Verkäuferin des Intershops, die erzählt, dass sie immer gern hier gearbeitet und gutes Geld verdient hat. Kontakt zu anderen Berufsgruppen des Bahnhofs gab es jedoch nicht. Seit 1962 konnten Reisende im Westteil des Bahnhofs mit Westgeld günstig einkaufen. Zigaretten und Spirituosen sind begehrt – und jeder Einkauf wird von westdeutschen Zeitungen als Unterstützung des DDR-Regimes gegeißelt. Zur Überwachung der Intershops setzt das Ministerium für Staatssicherheit sog. ´Inoffizielle Mitarbeiter´ ein. Vor allem Kunden aus dem Westen sollen ausgespäht und auch die Flucht der Beschäftigten verhindert werden. Im Jahr 1964 sind 11 von 19 Beschäftigen ´Inoffizielle Mitarbeiter´. Die Bespitzelung unter Kollegen ist durch Berichte belegt. Unfassbar.
Auch in den Mitropa-Gaststätten tummeln sich die Spitzel. Die Lokale sind Treffpunkt von Reisenden aus Ost und West. Und Kellner schreiben Berichte über belauschte Gespräche. Der Grenzkontrolleur erinnert sich an Schikanen bei den Kontrollen. Manchmal reichte ein äußeres Merkmal wie abstehende Ohren aus, und der Betroffene wurde peinlichst genau kontrolliert. Man durfte ja kein Ostgeld mitnehmen. Und beim kleinsten Verdacht wurde man in eine Kabine gebeten und musste sich ausziehen.
Sehr spannend ist auch der Bericht eines Buchhändlers. Er profitiert vom Zwangsumtausch, denn die Menschen müssen das Ostgeld ja irgendwie ausgeben. Die Westberliner interessieren sich sehr für die DDR-Literatur, die immer in guter Menge vorrätig ist. Die Ostberliner hingegen kaufen nur Bücher der Stars wie Christa Wolf oder Heiner Müller.
Ausbürgerung
Schier unglaublich ist die Geschichte der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Der reiste im Jahr 1976 mit Erlaubnis der DDR-Führung über den Bahnhof Friedrichstraße aus, um ein Konzert in Köln zu geben. Allerdings: er durfte nie wieder zurück. Die Proteste anderer Künstler und Intellektueller wie Manfred Krug und Jurek Becker verhallen ungehört, und die DDR verliert in der Folge einen Teil ihrer kulturellen Elite.
Wolf Biermann hatte in der DDR seit 1965 Auftrittsverbot. Seine Mutter hatte über den Bahnhof Friedrichstraße ein Mikrophon ins Land geschmuggelt. Damit konnte er in seiner Wohnung eine Schallplatte aufnehmen, die nur im Westen erscheint.
Terroristenschleuse
Woran ich mich noch gut erinnern kann: als ich Kind war, wurde auf Fahndungsplakaten nach den Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ gefahndet. Viel später erfuhr ich: Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hält Kontakt zu den Terroristen der RAF und gewährt Aussteigern sogar Unterschlupf. Über den Bahnhof Friedrichstraße werden sie ins Land geschleust. Silke Maier-Witt zum Beispiel lebt mit falscher Identität in der DDR und wird erst 1990 verhaftet.
Rentnerreisen – Schülerreisen
Ab 1970 beginnt sich das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR zu ändern. Die sozial-liberale Regierung setzt auf Wandel durch Annäherung, um die Folgen der Teilung abzumildern. Im Willy-Brandt-Haus in Lübeck lassen sich die Anfänge des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers nachempfinden.
Seit dem Herbst 1964 durften Rentner mehrmals in Jahr Verwandte in Westdeutschland besuchen. Die Ostrentner nutzen die Gelegenheit und brachten begehrte Westgüter mit in den Osten. Gruppenreisen wurden für solche Menschen möglich, die als politisch zuverlässig galten.
Seit den 1970er Jahren wurden auch Schülerreisen immer häufiger. Die Reisen wurden finanziell gefördert und viele Lehrer nahmen die Gelegenheit wahr, den Schülern einen Einblick in den Alltag der DDR zu gewähren.
Aufbruch 1989
1989 ist ein Jahr der Kontraste. Der DDR laufen die Menschen davon, immer mehr Menschen protestieren gegen das Regime. Und in Prag, Warschau und Budapest werden die Botschaften der Bundesrepublik gestürmt.
Parallel bereitet die Staatsführung die Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der DDR vor. Am 6. und 7. Oktober finden Feste und Paraden statt. Am 9. Oktober beteiligen sich 70.000 Menschen an der Montagsdemonstration in Leipzig. „Wir sind das Volk.“ Die Sicherheitskräfte greifen nicht ein. Das Ende der DDR.
Beim Gang durch die Ausstellung hat man übrigens immer den Soundtrack der Zeit im Ohr – die Marschmusik der DDR ebenso wie Auszüge aus Interviews und zeitgeschichtlichen Dokumenten.
Neugierig geworden?
Der Tränenpalast als Ort der deutschen Teilung gehört zur Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das Museum in Bonn ist mit seinem umfassenden Überblick über die deutsche Geschichte jeden Besuch wert, und der Kanzlerbungalow zeugt von der Bescheidenheit der jungen deutschen Demokratie. In Berlin lässt sich der Alltag in der DDR anhand zahlreicher Objekte und Zeugnisse im Museum in der Kulturbrauerei erleben.
Schön geschrieben, Erinnerungen werden wach…
Ich bin in der 10. Klasse auch nach Berlin gefahren.
Jens Hoffmann
Travel-Food-Art Mag.
Dieser teil der deutschen gerät oft in vergessenheit.dabei ist er genauso wichtig wie das gedenken an den holocaust.
Der bericht ist sehr informativ und unterhaltsam geschrieben.vielen dank für ihre arbeit