Simone de Beauvoir – Wiederbegegnung in Bonn

Die Autorin, aus FotografensichtDie Autorin, aus Fotografensicht

Habt ihr auch Bücher, denen ihr früh in eurem Leben begegnet seid, und die euch geprägt haben, auch wenn ihr vielleicht bei der ersten Lektüre nicht jedes Detail verstanden habt? Bei mir waren dies die Bücher von Simone de Beauvoir.

Ich weiß nicht mehr, wann genau und warum wir uns begegnet sind. Was ich noch weiß: ich habe ‚Das andere Geschlecht‘ gelesen und sämtliche Bände der Autobiografie von Simone de Beauvoir. Eine Vorliebe für dicke Bücher hatte ich schon immer…. Die Bände aus den Jahren 1985 und 1986 stehen noch immer in meinem Bücherregal, mittlerweile alle leicht in die Jahre gekommen und angegilbt.

Die Themen, die Simone de Beauvoir aufbrachte, sind nach wie vor aktuell – das zeigt jetzt eine kleine, aber feine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn: „Simone de Beauvoir und ‚Das andere Geschlecht'“. Zeit für ein Wiedersehen!

Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe

Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe

Direkt im Eingangsbereich der Ausstellung erwarten die Besucherinnen die beiden Bände des Werks, das einst so viel in Bewegung setzte. Ich schreibe ganz bewusst ‚Besucherinnen‘, denn die weiblichen Ausstellungsbesucher sind ganz eindeutig in der Überzahl – zumindest am Tag meines Besuchs.

Das Paris der Existenzialisten

Sofort taucht man tief in die Atmosphäre der Nachkriegszeit in Paris ein. Zahlreiche Intellektuelle und Künstler debattierten hier über das Ende des kapitalistischen Systems und machten Paris zum geistigen und kulturellen Zentrum Europas. Hier nahmen die Ideen des Existenzialismus ihren Ursprung. Jean-Paul Sartre veröffentlichte 1943 sein Werk L´Etre et le Néant (dt. Das Sein und das Nichts), dessen zentrale These ist, dass der Mensch nichts ist, außer dem, was er beschließt zu sein.

Eine Fotowand zeigt all jene Ansichten, die mir so vertraut geworden sind: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre arbeitend im Café de Flore. Das markante Profil Albert Camus‘. Ein kreatives Universum, das unterlegt ist mit wunderbarer Jazzmusik von Boris Vian. Ich kann mich kaum losreißen…

Das Paris der Existentialisten

Das Paris der Existentialisten

Simone de Beauvoir und Sartre - Arbeit im Café

Simone de Beauvoir und Sartre – Arbeit im Café

Vollkommen neu war mir die enge Verbundenheit von Alberto Giacometti zu Simone de Beauvoir. Ich mag ja die spindeldürren Skulpturen des Schweizer Künstlers. In Bonn lerne ich, dass er auch Zeichnungen und Skulpturen von Simone de Beauvoir schuf.

Simone de Beauvoir, so wie Alberto Giacometti sie sah

Simone de Beauvoir, so wie Alberto Giacometti sie sah

Ein epochales Werk

Simone de Beauvoir veröffentlichte 1949 die sozialwissenschaftliche Studie Le deuxième sexe, später ins Deutsche mit Das andere Geschlecht übersetzt. Es handelt sich um eine Arbeit zur Stellung der Frauen in der westlichen Gesellschaft. Simone de Beauvoir liest die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte des Patriarchats. Kernaussage: Man wird nicht als Frau geboren, sondern durch Rollenzuweisungen dazu gemacht. Der Text ist ein Plädoyer für die Gleichberechtigung und gegen das konservative Frauen- und Mutterbild der Zeit. Die Auseinandersetzung mit Tabuthemen wie Sexualität, lesbischer Liebe und Abtreibung führte zu einer Welle von Kritik und Anfeindungen vor allem durch männliche Leserschaft. Albert Camus zum Beispiel sah den französischen Mann ins Lächerliche gezogen. Länder wie Spanien, die Sowjetunion und der Vatikan setzten das Buch auf den Index. Erst rund 20 Jahre später wurde der Text als eins der Hauptwerke feministischer Theorie anerkannt.

Besucher der Ausstellung können an Bistrotischen Platz nehmen und sich in die Lektüre vertiefen. Der erste Band erschien im Juni 1949 und verkaufte sich bereits in der ersten Woche 22.000 Mal. Der zweite Band folgte im November 1949. Vorabdrucke erschienen in der Zeitschrift Les Temps Modernes – das Sprachrohr für die Ideen des Existenzialismus war im Oktober 1945 von Sartre und de Beauvoir gegründet worden. 

Am Lesetisch

Am Lesetisch

 

Dass der Text Wirkung zeigte, davon zeugen die vielen Briefe, die Simone de Beauvoir bekam. Das Ungewöhnliche: sie antwortete und es entstanden zum Teil lange Korrespondenzen. All diese Dokumente werden heute in der französischen Nationalbibliothek aufbewahrt. 

Ein Brief an Simone de Beauvoir

Ein Brief an Simone de Beauvoir

Die Rezeption des Werkes fand in drei Wellen statt. Frühe Übersetzungen (Deutsch 1951, Englisch 1953, Japanisch 1953, argentinisches Spanisch 1954) kamen oft aus der existenzialistischen, männlichen Ecke – die Texte waren stark gekürzt und die Kernaussagen entschärft.

Weltkarte der Übersetzungen

Weltkarte der Übersetzungen

Die Frauenbewegung der späten 1960er und 1970er Jahre veränderte die Lesart des Textes und machte ihn zu einem Hauptwerk feministischer Theorie. Und seit den 1990er Jahren macht sich eine neue Generation Wissenschaftler mit frischem Blick an die Interpretation. Neuübersetzungen der vollständigen Originalfassung (Russisch 1997, Hebräisch 2001, Schwedisch 2002) konnten vollkommen neue Leserschichten erschließen.

Ein Klassiker der Frauenbewegung

Anfang der 1970er Jahre bekannte Simone de Beauvoir sich offen zum Feminismus und unterstützte die Forderungen der Frauenbewegung in Frankreich wie in Deutschland. Ein wichtiger Aspekt war die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und damit das Recht auf Abtreibung. Die Bilder der Demonstrationen habe ich noch vor Augen – hier in Bonn sind sie Teil der Ausstellung.

Simone de Beauvoir als Türöffner

Simone de Beauvoir als Türöffner

Die Frauenbewegung in Deutschland ist undenkbar ohne Alice Schwarzer, die Herausgeberin der Emma. Die Intellektuelle als Covergirl: So manches Portrait Simone de Beauvoirs wurde in der 1977 gegründeten feministischen Zeitschrift veröffentlicht. 

 

Als Journalistin führte Alice Schwarzer seit 1972 mehrere Interviews mit Simone de Beauvoir, in deren Pariser Wohnung, aber auch im Italienurlaub. Auch diese Filmdokumente sind Teil der Ausstellung. Eine spannende Zeitreise, und es mutet heute sehr seltsam an, dass Simone ihren Sartre konsequent siezte…

Bilanz einer Amerikareise

Bilanz einer Amerikareise

Mein Fazit

Eine wunderschöne, kleine Ausstellung, die einer Zeitreise gleichkommt und dennoch gut zu vermitteln weiß, wie aktuell die gut 70 Jahre alten Texte Simone de Beauvoirs nach wie vor sind. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, die alten Bücher noch einmal aus dem Regal zu holen und mit einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung mehr erneut zu lesen.

Neugierig geworden?

Die Ausstellung „Simone de Beauvoir und ´Das andere Geschlecht´“ ist noch bis zum 16. Oktober in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen. Französischkenntnisse sind nicht obligatorisch, aber natürlich hilfreich. Informationen zur Ausstellung gibt es auf der Website der Bundeskunsthalle. Und im Pressebereich sind detaillierte Hintergrundinformationen für alle, die etwas mehr wissen wollen, verfügbar. 

Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert