Reisen in ferne Länder bedeuten meist eine gute Vorbereitung. Die Zeit will möglichst gut genutzt werden, um während der wenigen Urlaubstage viel vom Land sehen. Reiseführer und Websites mit den Top 10 der Sehenswürdigkeiten sind dann oftmals das Mittel der Wahl, um die Highlights der Destination zu identifizieren. Im Hinterkopf bleibt die diffuse Angst, etwas zu verpassen. Was für ein Blödsinn! Denn es sind oftmals die kleinen Dinge und die unerwarteten Begegnungen, die eine Reise zu etwas ganz Besonderem machen und sich fest in der Erinnerung verankern.
Wir waren im Tal der Drôme unterwegs und haben eine Reise zu den Menschen unternommen. Fernab von großen Städten haben wir eine phantastische Natur entdecken dürfen, zwischen den beeindruckenden Felsen des Vercors und blühenden Lavendelfeldern. Die Hektik der modernen Zeit ist unendlich weit weg und es scheint, als ziehe diese friedvolle Umgebung eine ganz besondere Art Menschen an. Und so entsteht eine kosmopolitische Gemeinschaft aus kreativen Geistern, Aussteigern und Weltverbesserern.
Jill & das Gigors Electric Sound System
Es hat monatelang nicht geregnet in der Drôme, aber genau jetzt öffnet der Himmel seine Schleusen. Wir sind im Auto unterwegs zum Dörfchen Gigors-et-Lozeron und die Scheibenwischer leisten Schwerstarbeit. Die Straße ist eine einzige Rumpelpiste, und kein Wegweiser verrät uns den Weg. Wir wollen zu Jill, die uns zum Apéritif eingeladen hat. Köstliche Fruchtsäfte, ein Pastis oder auch ein gut gekühlter Roséwein, dazu einige Oliven aus Nyons werden an einem rustikalen Holztisch gereicht. Wir sitzen im Freien, geschützt unter einem Dach, und schauen uns neugierig um. Auf dem Plattenteller dreht sich eine Vinylscheibe und Jill erzählt ihre Geschichte.
Jill ist Britin und kam im Jahr 2000 aus Brighton nach Frankreich. Sie hatte einen Franzosen kennengelernt, dessen Familie ein Haus im Tal der Drôme besaß. Dieses Haus hatte jahrelang leer gestanden, aber Jills Ehrgeiz war angesichts der alten Mauern entfacht. Die beiden entrümpelten, machten sich an die Renovierung, legten Elektrizität und machten das Haus bewohnbar.
Heute befindet sich hier eine Konzertlocation, und Band kommen von weit her, um Konzerte zu geben. Gigors Electric Sound System lautet der Name dieser außergewöhnlichen Konzerthalle am Ende der Welt. Jill erzählt von dem einzigen Nachbarn, der sich regelmäßig über den Lärm beschwerte; er verstarb vor zwei Jahren und der freien Entfaltung der Kunst steht seitdem nichts mehr im Weg.
Eigentlich ist Jill gelernte Kirmesdekorateurin – mit Grafikdesign verdient sie ihren Lebensunterhalt. Sie recycelt alte Holzschilder oder Skateboards, und in so manchem Geschäft in Crest und an anderen Orten im Tal findet man ihre Werke. Ihr Sohn hat die Kreativität seiner Mutter geerbt und studiert in Montpellier. Er erzählt, dass früher nur einmal pro Tag der Schulbus durch das Tal kam.
Rising Star der Kunstszene: Alejandro
Ein Auto hält vor dem Hof und zwei weitere Besucher kommen hereinspaziert: Alejandro und Julie. Wir merken gleich: hier im Tal kennt man sich und wir rücken am Tisch enger zusammen. Während die nächste Rund Getränke serviert wird, erzählen die beiden ihre Geschichte.
Alejandro stammt aus Argentinien und ist im Umland von Buenos Aires groß geworden. Er wollte einst Englisch lernen und tingelte als Straßenmusiker durch Großbritannien. Eine Gitarre hatte er mitgenommen, ohne sie spielen zu können, weil er dachte, das Instrument gehört zum typischen Bild eines Argentiniers. In Valencia, in Spanien, traf er dann Julie, deren Familie ursprünglich aus der Normandie stammte, mittlerweile jedoch im Tag der Drôme lebt. Es war Liebe auf den ersten Blick, und der monatelangen Zwangstrennung wegen Covid folgte die Heirat.
Alejandro lädt uns mit viel südamerikanischem Temperament gleich in sein Atelier ein, das nur zwei Kurven entfernt liegt. Er ist Maler und hat sich als Autodidakt quer durch die Kunstgeschichte gearbeitet, um seinen Stil zu finden. Hier im Tal der Drôme hat er sich ein Atelier eingerichtet, das nur durch Tageslicht erhellt wird und den Blick auf viel Grün freigibt. Heute kann er mit seinen Werken erste Erfolge verbuchen. Vielleicht ein Star der Kunstszene von morgen? Schaut euch selbst seinen Instagram-Account an.
Im Maison de la Résistance
Wir machen einen krassen Themenwechsel und landen in Beaufort sur Gervanne. Ein wunderschöner kleiner Ort, in dem wir das Widerstandsmuseum ´Maison de la Résistance Matthias Mathieu´ besuchen. Dieses kleine Geschichtsmuseum ist der Ausdruck einer besonderen Passion von Matthias Mathieu, der 30 Jahre lang alles sammelte, was er zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Widerstandes im Vercors finden konnte. Er verstarb viel zu früh im Alter von nur 37 Jahren bei einem Unfall in Peru, und sein Vater Joel machte es sich fortan zur Aufgabe, das Erbe seines Sohnes fortzuführen und die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Joel freut sich ungemein über unser Kommen. Er erzählt uns, dass er kurze Zeit in Deutschland gelebt, aber nie richtig die deutsche Sprache gelernt hat. Aus diesem Grund hat er seine englische Nachbarin Julie, die auch im Museum mitarbeitet, gebeten, für ihn zu übersetzen. Ahnt ihr es? Joel führt uns natürlich selbst und in Deutsch durch die Ausstellungsräume; Julie ergänzt seine Ausführungen und stellt sie in einen größeren Zusammenhang.
Wir erfahren viel über die strategische Bedeutung des Hochplateaus im Zweiten Weltkrieg sowie über den Versuch der Nazis, den Vercors zum umzingeln, dazu über den Widerstand. Das kleine Museum versteht sich als ein Ort der Reflexion, der die ganze Absurdität des Krieges deutlich macht. Eine Funktion, die auch heute dringend notwendig ist, wie Joel mit Blick auf die aktuellen Ereignisse erklärt. Ein beeindruckender Ort.
Mit Hugues auf dem Plateau de Chaux
Hugues stellt sich uns als Bergführer vor. Unser voriger Termin hatte sich etwas in die Länge gezogen und die Gruppe zeigt nach einem langen Tag erste Ermüdungserscheinungen. Hugues wartet geduldig. Ganz eindeutig: das ist ein Mensch, der in sich selbst ruht und die Dinge so nimmt, wie sie kommen. Dann sind alle startklar und Hugues nimmt uns mit auf eine kleine, aber feine Wanderung über das Plateau de Chaux.
Ein Hauch von Provence ist hier zu spüren, mit einer enormen Bandbreite an Landschaften. Hugues wird magisch angezogen von der Welt alles Lebenden. Er ist Botaniker und kennt jedes Holz und jedes Pflänzchen, das da wächst. Er reibt die Blätter verschiedenster Kräuter und lässt uns riechen, findet wilden Knoblauch, den er uns zum Verkosten reicht.
Erst im Verlauf der Unterhaltungen wird uns klar, dass dieser ruhige und bescheidene Mann einer der führenden Botaniker Frankreichs ist, 2012 ausgewählt für eine botanische Mission auf das Kerguelen-Archipel. Kerguelen ist einer der abgelegensten Orte der Welt und gehört zu den Terres Australes – den französischen Antarktisgebieten. Die Inseln der Trostlosigkeit, so wie James Cook sie nannte, sind nur per Flug nach La Réunion und dann mit einer 10-tägigen Schiffspassage aus zu erreichen. Definitiv kein Ziel für Pauschalurlauber, aber ein Paradies für Hugues, der sich sogar erneut auf die lange Reise machte, um endemische Pflanzen zu katalogisieren.
Im Jahr 2016 gründet er sein eigenes Unternehmen im Tal der Drôme, Galgal Escapades. Schaut doch einmal auf der Website und dann bei Hugues in der Drôme vorbei!
Elodie – Ein Tal und eine Geschichte
Der Hauptort im Vallée de la Drôme ist Crest. In der Chapelle des Cordeliers treffen wir Elodie, die hier eine Ausstellung ihrer Bilder aus dem Tal der Drôme eröffnet. Diese Bilder anzuschauen, macht uns gleich gute Laune, und wir erkennen so einige Orte wieder, die wir besucht haben. Das Buch mit Elodies Werken kann man im Tourismusbüro erwerben und so eine Dosis guter Laune mit nach Hause nehmen.
In Crest ist Markttag und wir haben eine denkwürdige Begegnung. Eine Klitoris aus Stoff ist hier vor einem kleinen, ansonsten ganz normal aussehendem Geschäft ausgestellt, und und auch kleinere Exemplare in der Größe eines Schlüsselanhängers sind zu haben. Wir stehen noch ratlos vor dem Laden, als die Ladenbesitzerin laut schimpfend herausgeschossen kommt, um einen beeindruckenden Redeschwall über uns niedergehen zu lassen. Der weibliche Körper, Frauengesundheit und Selbstbestimmung – das sind ihre Themen, und ihr Wutanfall richtet sich gegen die aktuelle Entwicklung in den USA. Wow, was für ein Temperament! Und dabei bezeichnet sie sich selbst noch nicht einmal als Feministin…
Upcycling auf Französisch – L´Or des Bennes
Unsere nächste Station liegt in einem kleinen Industriegebiet. Bei ´L´Or des Bennes´ wird alten Dingen ein zweites Leben geschenkt. Der Name der ´recyclerie´ lässt an Gold – or – und Ebenholz – ebène – denken. Menschen aus dem Tal der Drôme können hier die Dinge abgeben, die sie Zuhause nicht mehr brauchen.
Baptiste hat seit einem Jahr als der ´Chargé de sensibililsation´ eine vorwiegend pädagogische Aufgabe. Er zeigt uns die Theke, wo die Objekte angenommen werden, und nimmt und mit hinter die Kulissen, ins Lager.
Das eigentliche Geschäft ist ein wahrer Traum für alle Flohmarktfreaks und Schnäppchenjäger. Baptiste zeigt uns einige rundum erneuerte und aufgewertete Objekte, wie zum Beispiel den Bären, der aus Stoffresten entstanden ist. Schülern wird bei Workshops vermittelt, wie man aus alten T-Shirts Taschen herstellen kann. Und auch Touristen könnten sich zu Kreativ-Workshops einschreiben.
Mittlerweile hat ´L´Or des Bennes´ zehn Angestellte und kann sich auf die Unterstützung von 40 Freiwilligen verlassen. Die Ware, die den Laden verlässt, wird gewogen. Seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 2018 haben 240 Tonnen Waren den Laden für ein neues Leben verlassen.
Zum Tänzelnden Pony
Den Geist und die ganz besondere Stimmung im Tal der Drôme können Besucher vielleicht am ehesten in dem kleinen Örtchen Saoû erleben. Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch, mit 1.000 Motiven, die das Fotografenherz erfreuen.
Wir steuern das ´Le Poney Fringant´ an, eine Kulturbar, deren Namen man mit ´Das tänzelnde Pony´ übersetzen kann. Der Besitzer arbeitete einst am Theater in Lyon und man sieht ihm an, dass er sein Leben auch gelebt hat. Er wollte in Saoû einen Raum für die Kultur schaffen, als er vor zwei Jahren das Lokal kaufte. Ein Jahr Renovierungsarbeit war nötig und Besucher erkennen nicht nur am Namen der kleinen Bar, dass die Gedankenwelt von Tolkien hier als Inspiration dient. Der Wald von Saoû als ein magisches Reich der Elfen und Hobbits… Eine schöne Vorstellung.
Das ganze Dorf scheint sich hier zum Aperitif zu treffen. Die Stimmung ist absolut tiefenentspannt, wie überall im Tal. Jeder kennt jeden und auch als Fremder kommt man sofort mit anderen Gästen ins Gespräch. Vielleicht liegt der Erfolg des kleinen Lokals aber auch an der beeindruckenden Whiskykarte. Draußen spaziert ein Pferd vorbei – vollkommen normal und nicht weiter bemerkenswert.
Der Vogel auf seinem Ast
Zeit zum Abendessen. Wir laufen einige Schritte über die Dorfstraße zum ´Oiseau sur sa Branche´ und finden gleich auf der Terrasse einen Tisch. Der Brunnen plätschert und wir sehen, dass hier die Wasserflaschen gekühlt werden, die im nächsten Moment schon auf unserem Tisch stehen. Das Restaurant existiert seit 1865 und wird nunmehr in der sechsten Generation als Familienunternehmen geführt.
Der Servicemitarbeiter hat die Ruhe weg. Ein launiger Schwatz mit den Gästen gehört für ihn zum guten Service dazu. Wir staunen nicht schlecht, als er einen ganzen Stapel Bücher an den Tisch schleppt – Bände mit den Romanen von Jules Verne, in wunderschönen alten Ausgaben. Darin versteckt sich die kleine, aber feine Speisekarte, die selber als literarisches Werk durchgehen könnte. Die Beschreibung der Speisen ist reine Poesie und oftmals können wir nur erahnen, was sich hinter den verschnörkelten Texten verbirgt.
Eins wird uns schnell klar: hier wird regional und saisonal gekocht, alle Zutaten kommen wie auch die Weine aus der unmittelbaren Umgebung. Was mir sehr gut gefällt: auch von unserem Platz auf der Terrasse aus haben wir einen direkten Blick in die Küche. Die Speisen, die uns serviert werden, sind allesamt echte Hingucker, phantastisch präsentiert und absolut köstlich.
Offenlegung
Ich hatte das große Glück, auf Einladung des Tourismusbüros Vallée de la Drôme eine Gruppe deutscher Journalisten begleiten zu dürfen. Die Pressereise war sehr anders, als alle anderen Pressereisen, die ich vorher erlebt habe, denn es war quasi eine Reise mit Familienanschluss. Wir waren nicht nur bei Nicolas Adam, dem Direktor des Tourismusbüros, zu Hause eingeladen, sondern haben auch einen großen Teil seiner Freunde kennenlernen dürfen – ein bunt zusammengewürfelter Haufen Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen ins Tal der Drôme gekommen sind, um hier die Vision eines besseren Lebens in einer funktionierenden Gemeinschaft umzusetzen. Mein Dank gilt auch Nicolas´ Kollegen Lévy Anthérion und Alexandre Piet, die mit uns ihre Liebe zum Tal der Drôme geteilt haben. Ich komme wieder – das steht fest.
Ein wunderbarer Bericht, liebe Monika. Er bringt einem die Menschen so nahe, dass man große Lust verspürt, sie ebenfalls aufzusuchen. Sehr inspirierend. Herzliche Grüße
Kiki
Warum nicht, liebe Kiki!? Wir haben ja während der wenigen Tage, die wir vor Ort waren, nur einen kleinen Einblick bekommen, und ich bin sicher, dass sich noch viele weitere interessante und skurrile Charaktere finden lassen… Viele Grüße, Monika
Hallo Monika,
Sehr schöne Einblicke in Bild und Schrift in die Welt der Lebenskünstler hinter die Kulissen, von Mensch zu Mensch.
Eine Möglichkeit, die das Reisen möglich macht.
Herzliche Grüße ,
Jasmin
Merci de parler si bien de notre Région. Vos mots vont, sans nul doute, inciter encore plus nos Amis allemands à venir la parcourir . Et alors pourrons-nous envisager encore plus d’échanges avec les belles régions allemandes comme par exemple le Bodensee, la Bavière, le Hartz ou plus proche la forêt noire. Bien cordialement
Un grand merci, Joel, de votre commentaire! Toute la région était une très belle découverte pour nous, et j´espère que beaucoup d´Allemands vont découvrir votre petit musée. Bien cordialement, Monika