Von Leer hatte ich überhaupt keine präzise Vorstellung. Irgendwie sympathisch, wie alles in Ostfriesland, insgesamt jedoch ein unbeschriebenes Blatt Papier, schlimmer noch als das Leere Viertel, jene legendäre Sandwüste auf der arabischen Halbinsel. Also nix wie hin….
Tatsächlich ist Leer nach Emden und Aurich die drittgrößte Stadt Ostfrieslands – mit gerade mal 34.000 Einwohnern. Die Fahrt nach Leer ist bestimmt vom satten Grün der Wiesen und vom Blau des Himmels, inklusive Stopp an einer Zugbrücke. Leer bezeichnet sich als Tor zu Ostfriesland und liegt da, wo die Leda, deren Namen ich vorher noch nie gehört hatte, in die Ems fließt. Was den Besucher erwartet: Viel maritimes Flair, gepaart mit einer sehenswerten Altstadt. Und dazu ein echter Ostfriesentee.
Nah am Wasser gebaut
Der Bahnhof von Leer ist ein guter Ausgangspunkt für die Erkundung der Stadt, ob man nun mit dem Zug oder dem Auto anreist, denn von dort gelangt man in nur wenigen Schritten an das Ufer der Leda. Die Leda bildet bei Leer einen fast geschlossenen Kringel, aufgeteilt in Industriehafen auf der einen sowie Handels- und Freizeithafen auf der anderen Seite. Der Zufluss der Leda in die Ems wird über die Seeschleuse geregelt, die den Hafen tideunabhängig macht.
Es lohnt sich, dem Uferweg entlang der Leda zu folgen – fernab des Trubels der Fußgängerzone kann man hier einen wunderbaren Spaziergang auf einem breiten, gut ausgebauten Weg unternehmen. Leer ist hier erstaunlich modern, mit schicken Apartmenthäusern. Als Spaziergänger kann man nicht nur den Blick auf das Wasser und die Schiffe genießen, sondern findet auch einige Möglichkeiten für eine kleine Pause mit Blick auf das Wasser. Und genügend Schatten an heißen Tagen.
Der Kulturspeicher ist heute ein Café und Biergarten, aber auch ein Ort kultureller Begegnungen in einem über 200 Jahre alten Gebäude. 1778 wurde es in unmittelbarer Nähe des Handelshafens zur Zwischenlagerung von Waren erbaut.
Der Museumshafen
So klein Leer auch ist: die Stadt ist nach Hamburg der zweitgrößte Reedereistandort in Deutschland. Unfassbar: es gibt 23 Reedereien in der Ems-Dollart-Region, die 305 bereedete Schiffe über die Ems in die ganze Welt hinaus schicken. In Leer selber ist von großen Pötten nichts zu sehen, aber 4.000 Mitarbeiter sind an Land damit beschäftigt, die Aktivitäten zu koordinieren, und dazu kommen 12.500 Mitarbeiter auf See. Und es scheint eine Branche mit Zukunft zu sein, denn es wird auch fleißig ausgebildet. Beachtliche 500.000.000 € Jahresumsatz wurden so zuletzt generiert.
Viel Wissenswertes rund um die maritime Tradition kann man im Museumshafen erfahren, der ganzjährig frei zugänglich ist. Die Idee entstand 1994 beim Treffen einiger Freunde, und bereits ein Jahr später fand das erste Treffen von Traditionsschiffen statt. 34 Kapitäne sind damals der Einladung nach Leer gefolgt. Die Idee, daraus eine feste Institution zu machen, lag nahe und geboren war der Museumshafen. Heute kümmern sich 100 Freiwillige des Vereins Schipper Klottje Leer um den Erhalt der Schiffe, die allesamt noch fahrtüchtig sind. Nach Rücksprache mit den Eigentümern darf man eventuell sogar eine Blick ins Innere der Schiffe werfen. Eine schöne Art, Traditionen wach zu halten und gleichzeitig Menschen in die Stadt zu locken.
Kunst am Hafen
Eine charmante Mischung aus Kunst und Trödel kannst du entdecken, wenn du dem Lauf der Leda noch weiter südlich folgst. Ein öffentlicher Bücherschrank mit Flohmarktcharakter lockt Leseratten wie Fotografen magisch an; Bücher kann man gegen eine kleine Spende aus dem Regal mitnehmen. Die Frage ist: was ist interessanter? Die angebotene Lektüre oder die Bude selber? Unter anderem wurden Schiffsteile verbaut und auch Weinfässer finden sich. Kann es einen schöneren Platz geben, um sich der Lektüre hinzugeben?
Übrigens, seit 1999 gibt es in Leer die ´Ostfriesischen Krimitage´. Was für eine tolle Idee, die Neugierde auf eine Destination durch Regionalkrimis zu wecken oder aber die Urlaubsfreuden durch die Lektüre zu verlängern, ganz nach dem Motto ´Willkommen im Mordwesten´… Wer lieber Fernsehen schaut: die Krimis der Reihe ´Friesland´ werden in Leer und Umgebung gedreht. Leider habe ich Brocki und Insa nicht getroffen…
Zwischen Kunst und Kitsch geht es weiter gen Süden – bis zur Meerjungfrau. Sie ist ein Werk von Karl-Ludwig Böke, dem bedeutendsten Bildhauer Ostfrieslands, der in Leer auch sein eigenes Museum hat. Die Besonderheit: seine Meerjungfrau hat Schwanzflossen…
In unmittelbarer Nachbarschaft der Meerjungfrau kann man in einem winzig kleinen Park weitere Kunstwerke anschauen. Oder einfach auf einer der Bänke eine kleine Pause einlegen. Alles mit Blick auf´s Wasser.
Die Altstadt
Vom Museumshafen gelangt man über das Rathaus im deutsch-niederländischen Renaissancestil in die Altstadt – wunderschön restaurierte Gebäude und enge Gassen laden zum Flanieren ein. Hier finden sich unzähliche kleine Geschäfte, Teestuben und Restaurants. Traumhaft.
Ein Paradies für Flaneure und Tagträumer…
Das Bünting Teemuseum
Wusstet ihr, dass der Ostfriesentee zum immateriellen Welterbe der UNESCO zählt? Die Ostfriesen trinken sagenhafte 300 Liter Tee pro Jahr und damit zehn Mal mehr als der durchschnittliche Deutsche. Chapeau!
Wer mehr über die ostfriesische Teekultur erfahren möchte, der sollte das Bünting Teemuseum ansteuern. Es wurde 2001 in der Altstadt von Leer eröffnet, und zwar nur zwei Häuser von dem Kolonialwarenladen entfernt, den Johann Bünting 1806 eröffnete. Im Angebot damals: Tee, Kaffee, Tabak und Gewürze.
Tee ist eine Wissenschaft für sich und verschiedene Faktoren wie Anbaugebiet, Klima, Erntezeit und Art der Verarbeitung beeinflussen Qualität und Aroma des Tees. Der Ursprung des Tees findet sich vermutlich in China; der Siegeszug durch Europa begann mit der Gründung der Niederländischen Ostindien-Kompagnie im Jahr 1602. Mitte des 17. Jahrhunderts kam der Tee dann nach Ostfriesland. Bünting ist das älteste private Teehandelshaus Ostfrieslands und heute eines der drei großen.
Echter Ostfriesentee besteht aus bis zu 20 verschiedenen Schwarztees, vor allem Assam, die in Ostfriesland gemischt werden. Durch die Mischung verschiedenster Komponenten werden dabei Qualitätsschwankungen ausgeglichen. Ganz wichtig auch: das kalkarme Wasser Ostfrieslands muss es sein. Es kann also sein, dass Ostfriesentee in anderen Teilen Deutschlands nicht wirklich schmeckt. Die Bezeichnung ´Ostfriesentee´ ist übrigens nicht geschützt, d.h. jedes Teehaus in ganz Deutschland kann sich seine eigene Mischung zusammenstellen. Bei Bezeichnungen wie ´Bünting Tee echter Ostfriesentee´ kann man sicher sein, ein Markenprodukt in der Tasse zu haben.
Lesetipp
Mich hat der wunderbare Reiseführer ´52 kleine & große Eskapaden in Ostfriesland´ durch Leer begleitet. Autorin Andrea Lammert stellt in diesem bei Dumont erschienenen Band Ausflüge ins Grüne vor – tolle Ideen, sei es für wenige Stunden, für einen Tag oder ein Wochenende. Den Stadtbummel durch Leer beschreibt sie auf vier inspirienden Seiten und einer angenehmen Mischung aus wunderschönen Fotos und informativem Text. Ich bin sicher, dass ich ohne die Lektüre nicht alle Highlights, die Leer zu bieten hat, hätte entdecken können. Die GPX-Daten des Tourenverlaufs kann man sich, wenn man mag, im Vorfeld herunterladen. Und die Hashtags für Postings in den sozialen Netzwerken gibt es auch dazu.
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Herrlich Danke
Sehr schöner Bericht über meine Heimatstadt.
Schön, dass es Euch gefallen hat.
Danke, Rudi! Sollte es tatsächlich Menschen geben, denen Leer nicht gefällt?
Tolle Fotos und super die Stadt Leer beschrieben. Wir freuen uns schon im September wieder da zu sein. Danke für die wunderschöne Beschreibung
Dann wünsche ich euch jetzt schon ganz viel Spaß! Und natürlich tolles Wetter und blauen Himmel!
Oh wie wunderschön! Tolle Bilder und was für ein Wetter du hattest, traumhaft! Besser hätte ich es auch nicht schreiben können, richtig, richtig toll. Und danke, dass du mein Buch erwähnst.
Liebe Grüße
Danke für deinen lieben Kommentar! Dein wunderbares Buch war uns ein treuer Begleiter, nicht nur in Leer. Und wir hatten tatsächlich die ganze Zeit traumhaftes Wetter, das die Ostfriesen so auch nicht gewohnt waren… Uns hat es gefallen.
Liebe Monika, habe mir endlich die Zeit genommen, deinen Artikel zu lesen… sehr schön, möchte sofort da sein und alles nachleben! Danke für die tollen Anregungen!
Danke für deine lieben Worte! Leer war auch für mich die totale Überraschung. Ich plane in Gedanken schon den nächsten Aufenthalt in Ostfriesland – es gibt so viel zu entdecken!