Marseille – das ist für viele eine Stadt mit zumindest zweifelhaftem Ruf. Und zugleich eine unglaublich aufregende Stadt mit bewegter Geschichte. Marseille ist die älteste Stadt Frankreichs und wurde vor mehr als 2.600 Jahren von den Phöniziern gegründet. Aktuell liegt sie im ewigen Wettrennen um die Position der zweitgrößten Stadt Frankreichs vor Lyon. Marseille hat nicht die glattpolierte Eleganz von Paris oder auch von Aix-en-Provence, sondern stellt einen überaus quirligen Meltingpot der Kulturen dar. Das raue Klima einer Hafenstadt, gepaart mit einem chaotischem Verkehr scheinbar ohne Regeln, und noch dazu Multikulti ohne Ende – Marseille hat definitiv einen starken Charakter. Schon meine Oma warnte mich vor langen Jahren vor Marseille als Hort der Kriminalität und Bandenkriege, vor den Schießereien in den Vorstädten. Hingefahren bin ich natürlich trotzdem und war sofort fasziniert vom unglaublichen Flair. Nicht umsonst wird Marseille das Tor zum Mittelmeer genannt. Marseille hat viele Bewohner mit italienischen Wurzeln und auch der Maghreb ist nicht weit. Das Leben ist laut und manchmal chaotisch. Kurzum: ein großes Gewusel von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache. Das Leben spielt sich oftmals draußen ab. Auch in den Wintermonaten sind die Cafés gut besucht, die Temperaturen mild und der blaue Himmel strahlt. Die perfekte Zeit, um Marseille im Hinblick auf ein besonderes Thema zu erkunden – dem der Exilanten. Es gab eine Zeit in der noch nicht allzu fernen Geschichte, als zahlreiche Deutsche und Österreicher Marseille zu ihrer vorübergehenden Heimat erkoren, in der Hoffnung dem Naziregime zu entkommen. Der Hafen von Marseille war die Hoffnung auf Freiheit. Noch heute kann man der Geschichte Marseilles im Jahr 1940 an manchen Orten in der Stadt nachspüren.
Rund um den Alten Hafen
Der Vieux Port ist das Herz der Stadt und natürlich auch für mich das allererste Ziel, als ich in Marseille ankomme. Ich kann mich kaum sattsehen an dem magischen Licht, das über dem Hafenbecken liegt. Hier hat sich über all die Jahre kaum etwas geändert. Schicke Yachten schaukeln sanft im Wasser und manche Plakate weisen noch darauf hin, dass in hier während der Olympischen Spiele 2024 die Segelwettbewerbe ausgetragen wurden. Über all dem wacht Notre-Dame de la Garde, das Wahrzeichen der Stadt.
Rund um das Hafenbecken finden sich zahllose Restaurants, in denen man die berühmte Bouillabaisse kosten kann. Vor einigen Jahren noch habe ich an einem der Fischstände selbst Fisch eingekauft, um dann in einem schicken Apartment unweit der Cannebière zu lernen, wie langwierig es ist, eine echte Fischsuppe zu kochen. Der Anbieter hat leider die Coronazeit nicht überstanden – sehr schade. Das war ein unvergessliches Erlebnis und den Geschmack unserer Bouillabaisse habe ich heute noch auf der Zunge.
Ein weiteres Wahrzeichen Marseilles kann man an manchen Orten in der Stadt und direkt am Hafen finden – Seife. Das Musée du Savon des Seifenherstellers Licorne führt in die hohe Kunst der Seifenherstellung ein.
Im wohlriechenden Shop nebenan kann man sich gleich eindecken mit diesem typischen Produkt.
Mein Ziel ist heute das Palais du Pharo, ein überaus prachtvoller Palast, den Napoléon III ab 1858 für seine Gattin Eugénie erbauen ließ. Das Kaiserpaar hat nie hier gelebt, denn die Bauarbeiten verzögerte sich um einige Jahre. Als die Napoleonische Phase vorüber und der Kaiser gestürzt war, diente der Bau als Krankenhaus und auch das Institut für Tropenmedizin war hier beheimatet. Heute wird der Palais du Pharo als Kongresszentrum genutzt – eine Tagungsstätte mit Aussicht!
Was mir ausgesprochen gut gefällt, das ist der weite Blick über Marseille und das Hafenbecken, vor allem aber auch auf das Mittelmeer und die Iles du Frioul mit dem berühmten Château d´If, das durch Alexandre Dumas´ Graf von Monte Christo berühmt wurde.

Der Blick auf das MuCEM, rechts Fort St. Jean, hinten das Kreuzfahrtterminal und die Nachbildung der Grotte Cosquer – Marseille
Auf der anderen Seite der Hafeneinfahrt leuchtet die Fassade des MuCEM vor blauem Himmel. Aufregende Museumsarchitektur können sie, die Franzosen! Nur wenige Schritte entfernt, befindet sich der Eingang zur Nachbildung der Grotte Cosquer.
Auf dem Weg zur Kunst sehe ich ein Hinweisschild, das mich mehr als 100 Jahre in der Geschichte zurückwirft und auf den Pont Transbordeur aufmerksam macht. Eine Stahlkonstruktion, die 1905 eröffnet wurde und als Eiffelturm von Marseille bekannt war. Die Schwebkabine erlaubte den Wechsel von einer zur anderen Hafenseite. Sagenhafte 250 Überfahrten gab es pro Tag. In 53 Metern Höhe lockte ein Panoramarestaurant mit phantastischem Ausblick und natürlich Bouillabaisse Kunden an. Deutsche Bomben brachten 1944 einen der Pylone zum Einsturz. Ein Jahr später wurde der Betrieb endgültig eingestellt. Reparatur zwecklos.
Das MuCEM – Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers
Ein Museum ist immer ein guter Grund für eine Städtereise und das MuCEM stand schon sehr lange auf meiner Liste. Der Bau des Architekten Rudy Ricciotti wurde 2013 eröffnet, pünktlich zum Jahr der Kulturhauptstadt. Mich zieht es gleich auf die Dachterrasse, um in Ruhe einen Kaffee zu trinken und dabei die Aussicht zu genießen.
Die Architektur des MuCEM ist äußerst spannend. Der Bau befindet sich an der äußersten Spitze des Hafengeländes – ein quaderförmiger Bau mit einer netzartigen Hülle. Auf einer Grundfläche von 72 x 72 Metern ragt der Museumsbau 19 Meter in die Höhe. Der der äußeren Hülle verbirgt sich ein zweiter Quader mit einer Kantenlänge von 52 Metern und 18 Metern Höhe. 3.600 Quadratmeter Fläche stehen auf fünf bis zu neun Metern hohen Stockwerken für die Ausstellungen zur Verfügung. Besucher bewegen sich über Gänge, Rampen und Treppen zwischen den Stockwerken und den beiden Gebäudehüllen. Der Ausblick ändert sich ständig, vor allem auch wegen des sich ändernden Lichteinfalls.
Die netzartige Außenstruktur soll auf die Geschichte der Stadt anspielen und an Fischernetze denken lassen. Nur 10 Zentimeter starke Paneele aus Hochleistungsbeton wurden wie ein Puzzle zusammengesetzt. In Form gehalten wird das Ganze durch Stahlstäbe und Betonstützen. Und ich erfreue mich an den sich ständig ändernden Aus- und Durchblicken.

Dominique Papety, Le Duc de Montpensier et sa suite visitant les ruines d´Athènes, 1847 – MuCEM, Marseille
Inhaltlich verspricht das MuCEM einen Einblick in die Zivilisationen der Länder des Mittelmeerraums. Es hütet die Sammlungen dreier Museen, die zur Neueröffnung nach Marseille verlagert wurden: des Musée d´Ethnographie du Trocadéro, 1878 in Paris gegründet, und seiner Nachfolgeinstitutionen, das Musée de l´Homme und des Musée national des Arts et Traditions populaires. 335.000 Objekte und 450.000 Fotografien sind heute hier versammelt, was mir jedoch fehlt, das ist der wirkliche Schulterschluss mit den Ländern des Mittelmeerraums. Klar, die Sammlung ist perfekt präsentiert, aber doch sehr französisch dominiert. Es gibt relativ wenige Objekte aus den arabischen Ländern und auch keine arabische Beschriftung an den einzelnen Objekten. Man lernt weit mehr über Frankreich als über die Länder des Maghreb. Und es gibt ja aufregende moderne Kunst aus arabischen Ländern. Und wo, wenn nicht in Marseille, könnte man dieses Wissen über fremde Kulturen teilen?
Bleibt die Architektur. Auf der Dachterrasse des MuCEM wird die Brücke zum Fort Saint-Jean und der alten Architektur aus dem 12. Jahrhundert geschlagen. Ein langer Steg verbindet die beiden Bauteile – neu mit alt – und ein weiterer Steg führt direkt ins Panier.
Wo alles begann: Im Panier
Das nördlich vom Alten Hafen gelegene Panier ist das älteste Stadtviertel von Marseille. Hier siedelten sich einst die Phönizier an. Sie wollten die erhöhte Lage und die Nähe zum Meer ausnutzen.

Am Place de Lenche im Panier gibt es unzählige kleine Restaurants, die zum Verweilen einladen. Marseille
Heute ist das Panier vielleicht das malerischste und charmanteste Viertel von ganz Marseille. Gewundene Gassen wechseln sich mit sonnigen kleinen Plätze oder Terrassen ab, dazwischen finden sich unzählige Boutiquen. Die Häuser machen oftmals einen etwas heruntergekommenen Eindruck und nichts ist auf Hochglanz poliert. Umso mehr Spaß macht es, hier zu flanieren.
Man kann sich gut vorstellen, wie die verschiedenen Einwanderungswellen hier ankamen – die Korsen, Italiener und nicht zuletzt die Nordafrikaner. Um das Jahr Marseilles als Kulturhauptstadt einzuläuten wurde dann viel investiert und saniert. Der Gentrifizierungsschock blieb jedoch aus. Für mich fasst das Panier all das zusammen, was wir Nordeuropäer unter südfranzösischer Lebensart verstehen. Wird hier überhaupt auch mal ernsthaft gearbeitet?
Und überall leuchtet Streetart von den Fassaden! Das Panier ist ein knallbuntes Freilichtmuseum. Meine Empfehlung: falls ihr einen Reiseführer dabei habt: steckt ihn in die Tasche oder in den Rucksack. Lasst euch einfach treiben und folgt eurem Bauchgefühl. Oder den Sonnenstrahlen, auf der Suche nach dem nächsten Foto.
Die Montée des Accoules führt einmal quer durch das Panier und erlaubt den Blick zum Alten Hafen. Die Jesuiten hatten einst ein Observatorium zur Beobachtung der Sterne eingerichtet. Später folgten eine Schule und ein Museum. Die Häuser entlang dieser uralten Straße bewahren die Grenzen der alten Parzellen. Vergrößern konnte man sich nicht, nur in die Höhe bauen.
Wir kommen an der Vieille Charité vorbei, die zwischen 1671 und 1745 als Armenhospiz erbaut und erweitert wurde. Nach umfassender Restaurierung wird die Anlage heute für kulturelle Veranstaltungen genutzt.
Exkurs in die Geschichte: Marseille 1940
Plötzlich werde ich in der Geschichte um rund 100 Jahre zurück geworfen. Wir stehen an der Passage de Lorette, einer steilen Treppe, die von der Rue de la République aus einen Zugang zum Panier bietet. Nichts weist hier darauf hin, aber Walter Benjamin war schon in den 1920er Jahren hier in Marseille, in dieser Passage. Benjamin verbrachte die letzten Wochen seines Lebens in Marseille, genauer: zwischen August und September 1940. Und seit 1927 hatte er an seinem unvollendeten Passagen-Werk gearbeitet, wobei er zunächst die überdachten Ladenpassagen im Sinn hatte, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in Paris entstanden waren. Als Flaneur entdeckte er auch die Passagen in Marseille, die einen ganz anderen Charakter als jene in Paris haben. Einst befand sich hier ein Krankenhaus, das seit dem 13. Jahrhundert Kreuzfahrern auf den Weg helfen sollte. Namensgeber der Passage ist das Kloster Notre-Dame de Lorette.
Im 19. Jahrhundert wurde die Rue de la République nach Pariser Vorbild gebaut. Die Wohnungen dieser Stadthäuser waren modern ausgestattet, verfügten über fließendes Wasser, Elektrizität und Heizung. Den Marseillern stand jedoch der Sinn viel eher nach schicken Villen mit Meerblick – sie wollten die modernen Stadtwohnungen nicht. Das ganze Viertel kam herunter und wurde mehrheitlich von ärmeren Gesellschaftsschichten bewohnt.
Die Passage de Lorette kreuzt die Passage des Folies Bergères. Sie war im Zweiten Kaiserreich parallel zur Rue de la République erbaut worden, um dem Pariser Architekturmodell nachzueifern. Hier eröffnete zunächst ein Casino, dann der Musiksaal der Folies Bergères. Mit der Zeit kam die ganze Anlage herunter, wurde zeitweise als Parkhaus genutzt – bis die Stadt Marseille sich daran machte, das alte Kulturerbe wieder gescheit in Szene zu setzen. Heute findet sich hier eine bunte Mischung von Designern, Cafés und Kulturinitiativen.
Mit Alain Paire im Musée Cantini
Wir sind im Musée Cantini verabredet, in der Rue Grignan, im 6. Arrondisssement, direkt im Zentrum von Marseille. Ich bewundere die prächtige Architektur dieses Hôtel particulier aus dem späten 17. Jahrhundert. Das Haus wurde 1694 für die Compagnie du Cap Nègre erbaut, die Ihr Geld mit Korallentauchen in den Gewässern Tunesiens verdiente. Es hatte im Laufe seiner Geschichte verschiedene Besitzer, bis Jules Cantini es im Jahr 1888 erwarb.
Jules Cantini war während des Zweiten Kaiserreichs als Steinmetz am Bau zahlreicher weltlicher und geistlicher Bauten in Marseille beteiligt. Er kaufte seinen Marmor in Norditalien und war selbst als Bildhauer tätig. Cantini war Kunstliebhaber und Philantrop. Mit seinem Tod 1916 vermachte er sein Haus der Stadt Marseille, unter der Bedingung, dass sie daraus ein Museum für moderne Kunst mache. Gesagt, getan: eröffnet wurde 1936. in den frühen 1950er Jahren wurden Ausstellungen von Bacon und Balthus organisiert, die ihrer Zeit weit voraus waren. Heute besitzt das Musée Cantini eine der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst in ganz Frankreich.
Die moderne Kunst ist auch der Grund, warum Alain Paire, Journalist, Schriftsteller und Galerist, uns zusammen mit seinem Schriftstellerkollegen Mika Biermann ein Treffen im Musée Cantini vorgeschlagen hat. Die künstlerische Revolution des Surrealismus nimmt einen bedeutenden Platz in der Sammlung des Museums ein. Rund um André Breton sammelten sich Künstler wie Viktor Brauner, André Masson, Hans Arp und Max Ernst. Nicht die Abbildung der Realität ist nach dem surrealistischen Manifest Aufgabe der Kunst. Sie soll vielmehr Träume und psychische Automatismen zulassen, ohne jede Kontrolle durch Vernunft, Ästhetik oder Moral.
Max Ernst ist mit seinem Werk Monument aux oiseaux von 1927 vertreten – ein ebenso monströses wie rätselhaftes Amalgam verschiedener Vögel. Vögel sind überhaupt ein Leitmotiv in seinem Werk. Alain Paire sieht Marseille als einen Ort der Begegnung, mit enormer Bedeutung für die europäische Kultur zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. In seinem Buch Gens de Marseille zeichnet er das Leben von Intellektuellen wie Walter Benjamin, Hannah Arendt und Simone Weil nach. Max Ernst war im Internierungslager Camp Les Milles nahe Aix-en-Provence und kommt 1940 nach Marseille. Hier trifft der die Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim, mit der er in die USA geht. Auch die Bewegung des Surrealismus wird schnell international. Viele Künstler und Schriftsteller verlassen Europa 1940 / 1941 über Marseille in Richtung Exil.
Victor Brauners Nombre zeugt von der Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Thema Skulptur. Ein Aufenthalt in den Bergen bei Michel Herz hatte Brauner zu dieser phantastischen Figur mit hermaphroditischen Zügen angeregt
Ein Besuch im Musée Cantini bedeutet auch eine Exkursion in die Geschichte der Stadt Marseille. Oskar Kokoschka zum Beispiel hält sich im März 1925 nur wenige Tage in Marseille auf, nutzt die Zeit aber für zwei Gemälde des Alten Hafens. Hier mischt sich der Impressionismus, den der österreichische Künstler in Paris entdeckt, mit Kokoschkas Expressionismus.
Wenige Jahre älter ist ein Gemälde von Louis Mathieu Verdilhan, das den Pont Transbordeur zeigt. Die Schwebefähre wurde 1905 eingeweiht und hatte zur Aufgabe, Passagiere in einer Gondel von der einen zur anderen Seite des Hafenbeckens zu befördern, ohne den Schiffsverkehr zu stören. 1944 wurde die Brücke von der deutschen Wehrmacht zerstört. Auch in der fotografischen Sammlung des Musée Cantini sind faszinierende Aufnahmen der Pont Transbordeur zu sehen.
Alain Paire nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch Marseille, um uns einige geschichtsträchtige Orte zu zeigen – Orte, die von Marseille als Kreuzungspunkt verschiedener Nationalitäten und Kulturen erzählen. Das heutige Hôtel Carré in der Rue Beauvau zum Bespiel trug früher den Namen Hôtel Continental. Hier war einst Walter Benjamin zu Gast. Ob die heutigen Hotelgäste das ahnen? Auch die Cafés rund um den Vieux Port sind Treffpunkt der Exilautoren – ebenso Nachrichtenbörse wie Wohnzimmer.
Nur wenige Schritte weiter gelangen wir zu einem kleinen, belebten Platz. Menschen kaufen am Büdchen eine Zeitung oder strömen zur nahen Bushaltestelle. Autos brausen vorbei. Die Hinweistafel an dem mehrstöckigen Haus ist in all dem Trubel sehr leicht zu übersehen. Eine Gedenktafel informiert, dass hier einst die Cahiers du Sud entstanden. Von 1921 bis 1966 gab Jean Ballard mit seinen Mitarbeitern im 4. Stock des Hauses die Literaturzeitschrift heraus. Von Albert Camus bis Simone Weil – die Autorenliste liest sich wie das Who is who der französischen Literatur- und Geistesgeschichte. Auch Texte von Walter Benjamin wurden hier veröffentlicht. Die Zeitschrift entwickelte sich selbst während der Zeit der Vichy-Regierung und der deutschen Besatzung zu einem Forum der deutschen Exilliteratur. Kaum vorstellbar, dass der herzkranke Benjamin sich durch das schmutzige und dunkle Treppenhaus in den 4. Stock hochquälte. Wenig später sollte er sich in Begleitung der von Varian Fry beauftragten Lisa Fittko auf den beschwerlichen Weg über die Pyrenäen machen. Die Flucht scheitert und Benjamin sieht nur den Selbstmord als Ausweg.
Die Association Varian Fry
Wer war Varian Fry? US-Amerikaner, 1907 in New York geboren, Harvard-Absolvent, Journalist. Als Korrespondent einer amerikanischen Zeitschrift wurde er 1935 in Berlin Zeuge von Judenverfolgungen. Diese erschütternden Erlebnisse ließen ihn sehr früh zu einer warnenden Stimme vor dem Nationalsozialismus werden. 1940 wurde das Emergency Rescue Committee gegründet, das Intellektuellen, Künstlern, Politikern und Gewerkschaftlern die Flucht aus dem unbesetzten Teil Frankreichs ermöglichen sollte. Man schickte Fry nach Marseille, im Gepäck Namenslisten – Menschen, denen er die Ausreise ermöglichen sollte.
Wir versuchen, der Person Varian Fry näher zu kommen und treffen Philip Breedan und Jutta B. Millas. Beide engagieren sich seit Jahren für die Association Varian Fry, die nur 25 Mitglieder zählt. Die jüngere Geschichte scheint auch in Frankreich ein schwieriges Feld zu sein… Der Verband sieht seine Hauptaufgabe in der Pädagogik und organisiert Konferenzen sowie Veranstaltungen an Schulen.
Wir treffen Philip Breeden, den früheren Generalkonsul der Vereinigten Staaten in Marseille. Er schied 2014 – gerade noch rechtzeitig – aus dem diplomatischen Dienst aus und lehrt seither am 1957 gegründeten American College of the Mediterranean in Aix-en-Provence. Ein smarter Amerikaner, der das gute Leben in Südfrankreich offensichtlich zu genießen weiß. An seiner Seite heute: Jutta B. Millas, die Sekretärin des Verbandes. Sie ist gebürtige Deutsche, hat familiäre Wurzeln in Bremen, besitzt aber seit ihrem 14. Lebensjahr die amerikanische Staatsbürgerschaft. Über Berlin kam sie einst nach Paris und war in einer Ermittlungsbehörde der US-Marine und Marineinfanterie tätig. Der Diplomat und die Geheimagentin – was für eine illustre Abendgesellschaft!
Breedens Motivation, sich in der Association Varian Fry zu engagieren, war eine Begegnung mit einem Menschen, den Varian Fry einst gerettet hatte, den Sohn eines Nobelpreisträgers. Dabei war es nicht das erklärte Ziel des ERC, Wissenschaftler zu retten. Wir fragen Breeden, wie er sich Frys Motivation für sein Engagement erklärt. Es wird vermutlich ein ewiges Mysterium bleiben, warum Fry die Aufgabe akzeptiert habe. Er war jung und ein Abenteurer, stand politisch links, war hartnäckig und dickköpfig, habe auch ein Problem mit Autoritäten gehabt, so Breeden. Zugleich wollte Fry jenen helfen, deren Werke ihn so bereichert hatten – vor allem nach seinen Erfahrungen mit den Nazis in Berlin. Eine humanistische Aktion, aus der Überzeugung heraus, dass Kultur der ganzen Welt gehört. Als Diplomat war Fry vollkommen ungeeignet, denn er tat ja illegale Dinge. Die USA unterhielten schließlich diplomatische Beziehungen zu Vichy-Frankreich. Vizekonsul Hiram Bingham, der Fry unterstützte, wurde nicht mehr befördert. Die Herausforderung für Fry: eine Auswahl treffen unter Zeitdruck und in einer gefährlichen Situation. Die Hilfesuchenden wurden immer mehr. Hannah Arendt zum Beispiel hatte noch gar nichts geschrieben. Sollte sie gerettet werden oder eher jemand anders? Den Begriff der Triage kennen wir ja auch aus jüngerer Zeit. Es bleibt die Frage, warum die Geschichte von Varian Fry so lange unentdeckt blieb. Warum zeigte keiner der Geretteten Dankbarkeit? Tristesse der Nachkriegszeit… Jean-Michael Guiraud begibt sich in seinem 1998 erschienen Buch La vie intellectuelle et artistique à Marseille à l´époque de Vichy et sous l´occupation, 1940 – 1944 (dt. Das intellektuelle und künstlerische Leben in Marseille zur Zeit von Vichy und unter der Besatzung, 1940 – 1944) auf Spurensuche und entdeckt die Geschichte von Varian Fry. Die Hafenstadt Marseille war damals nicht gleichbedeutend mit Frankreich, sondern wurde zur Insel.
Es ist spät geworden und wir verlassen das Lokal. in dem wir zu Abend gegessen haben. Dort, wo heute die Brasserie le Capucin beheimatet ist, wurde um 1880 in der Maison Dorée von Küchenchef Meynier die Tapenade erfunden. Und direkt gegenüber sehen wir das Hotel, in dem einst Alma Mahler und Franz Werfel zu Gast waren. In Sanary-sur-Mer hatten sie eine Mühle zu ihrer Bleibe auserkoren. Die beiden hatten Geld, auch während ihrer Flucht, und Fry wählte für ein Kennenlernen ein schickes Restaurant für ein gemeinsames Abendessen aus.

Jutta B. Millas, die Sekretärin der Association Varian Fry, an der Gedenktafel vor dem amerikanischen Konsulat in Marseille
Vor dem amerikanischen Konsulat in Marseille erinnert heute eine Stele an das Wirken von Varian Fry. Wir gehen noch einige Schritte weiter. Dort, wo heute das Lycée Montgrand zu finden ist, war früher das amerikanisches Konsulat, nicht aber die Visastelle. Hier befand sich das Büro von Hiram Bingham. Die Villa Air-Bel, die Varian Fry angemietet hatte, in der er Ausstellungen organisiert und in der Max Ernst seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, ist heute ein Ort, der nur noch von Drogendealern aufgesucht wird. Das Jeu de Marseille allerdings, das hier entstand, ist heute im Musée Cantini zu sehen.
Wahrzeichen der Stadt: Notre-Dame de la Garde
Wer Marseille sagt, kommt an ihr nicht vorbei: Notre-Dame de la Garde gilt als das Wahrzeichen der Stadt. Die Basilika, errichtet auf den Überresten einer mittelalterlichen Kapelle, liegt auf einer Anhöhe, direkt gegenüber des Panier. Notre-Dame ist ein symbolischer Ort für alle Marseiller und so verwundert es nicht, dass die deutsche Wehrmacht sich hier während des Zweiten Weltkriegs verschanzte.
Am 25. August 1945 wurde Notre-Dame befreit. Fünf Tage dauerte die Schlacht um Marseille. Mehrere Panzer und Kompanien näherten sich Notre-Dame, waren jedoch blockiert, da von oben sichtbar. Auch Versehen wurde ein Flammenwerfer ausgelöst – die Sicht war weg, der Weg frei. Spuren der Kämpfe um Notre-Dame sind noch heute an der Fassade der Basilika zu erkennen.

Der Panzer Jeanne d´Arc war an der Befreiung der Basilika Notre-Dame de la Garde in Marseille beteiligt.
Das Mémorial des Déportations
Am Fuße des Fort St. Jean, in einem 1943 von der Wehrmacht errichteten Bunker, befindet sich heute das Memorial der Deportationen – eines der Museen der Stadt Marseille. Der Ort will die Erinnerung an die Menschen, die einst verhaftet oder deportiert wurden, wachhalten. Juden, politisch Verfolgte, suspekte Subjekte.
Marseille stand für all das, was die Nazis verabscheuten. Ende 1942 wurde die Stadt von der Wehrmacht besetzt. Anfang Januar des Folgejahres kam es zu einer Reihe von Attentaten, für die Hitler Rache nahm: er befahl die Zerstörung des Hafenviertels als ´Nest von Kriminellen´. Französische jüdische Familien wurden deportiert, wobei SS und die französische Polizei Hand in Hand arbeiteten. Ende Januar wurde das Hafenviertel evakuiert. Bei der Bombardierung ab dem 1. Februar 1943 wurden 1.494 Gebäude zerstört.
Spannend ist die Ausstellung auch deshalb, weil sie auch die Geschichte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die das Marseille von heute ausmachen, aufzeigt: Italien, Korsen, diese Immigranten des eigenen Landes, Nordafrikaner, Juden, Menschen aus der ganzen Welt. Dennoch bin ich erleichtert, als ich den alten Bunker wieder verlasse und das Marseille von heute erblicke.
Wo übernachten?
Ein Hotel, das den Gedanken des Reisens und der Begegnung mit fremden Kulturen perfekt übersetzt, ist das Maisons du Monde, perfekt gelegen am Alten Hafen. Die Ähnlichkeit mit den gleichnamigen Geschäften für Innenausstattung und Dekoration ist kein Zufall – die beiden Unternehmen sind unabhängig voneinander, arbeiten jedoch für die Hotelausstattung zusammen.
Eine Reise voller Exotik und Komfort, mit Zimmern, die keine Wünsche offen lassen. Und das Frühstück ist schlicht sensationell. Das Buffet ist so verlockend, dass man unmöglich alles durchprobieren kann. Mir würde ja im Prinzip knuspriges Baguette mit etwas Käse ausreichen. Allerdings sehen die Eierspeisen allzu verlockend aus, dazu gebratenes Gemüse. Täglich wechselt das Angebot an Kuchen.
Das Personal ist genauso multikulti wie die Stadt selbst und verständigt sich in einem wilden Gemisch aus Französisch und Englisch und in ordentlicher Lautstärke. Ich finde es großartig! Was mich sehr beeindruckt hat: am zweiten Morgen konnte die Servicemitarbeiterin mich mit Namen ansprechen – mit dem Vornamen wohlgemerkt. Wow, das habe ich vorher noch nie erlebt!
Neugierig geworden?
Falls ihr neugierig geworden seid und mehr wissen wollt über die jüngere Geschichte von Marseille, so habe ich einige Lesetipps für euch. Zunächst natürlich Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur von Uwe Wittstock. Der Autor, Schriftsteller und Journalist, berichtet von diesem dramatischen Jahr der deutschen Literaturgeschichte. Die Wehrmacht hat Frankreich besiegt, und die deutschen und österreichischen Autoren, die seit 1933 in Frankreich Schutz gesucht hatten, müssen erneut fliehen. Varian Fry und seine Mitstreiter organisieren Papiere, um die Verfolgten außer Landes zu bringen.
Alain Paires Gens de Marseille: artistes, écrivains 1940 – 2024 ist im Sommer 2024 bei Gaussen erschienen, bislang allerdings nicht in Deutsch. 344 Seiten voller Geschichten rund um die Menschen, die Marseille ausmachen. Ein Kapitel des Buches ist auch Mika Biermann gewidmet. Der wurde in Bielefeld geboren und zog nach seinem Kunststudium in Berlin nach Marseille, wo er Französisch lernt. Sein Buch Trois jours dans la vie de Paul Cézanne ist dem großen Sohn der Stadt Aix-en-Provence gewidmet.
Offenlegung
Ich hatte das große Glück, eine Pressereise begleiten zu dürfen, die der Tourismusverband der Region Provence-Alpes-Côte d´Azur gemeinsam mit seinen Partnern vom Office de Tourisme Marseille und den Bouches-du-Rhône angeboten hatte. Die Anreise mit der direkten Zugverbindung von Frankfurt nach Marseille wurde von der Deutschen Bahn gesponsert. Die beschriebenen Eindrücke sind meine eigenen.
Liebe Monika, vielen Dank für diesen inspirierenden Artikel! Wie du die verschiedenen Facetten von Marseille beschreibst, hat mich sofort in Reisestimmung versetzt. Besonders neugierig bin ich jetzt auf das MuCEM, das ich bei meinem letzten Besuch leider nur von außen gesehen habe. Nächstes Mal werde ich dafür auf jeden Fall mehr Zeit einplanen!
Apropos Panier: Letzten Herbst habe ich einen wunderbaren Nachmittag in einem der Straßencafés verbracht. Nach einem Bummel durch das quirlige Noailles-Viertel mit seinen exotischen Gewürzen und buntem Markt genoss ich dort die Atmosphäre bei einem Glas Pastis, gutem Wein und einem Teller Meeresfrüchte.
Dank deiner tollen Tipps freue ich mich schon auf meine nächste Reise nach Marseille!
Bravo Monika! Marseille est une ville formidable . Und Du hast die Transformation von Marseille, wo ich einmal gearbeitet habe, gant großartig dargestellt!
Feiner Bericht!
Jens